Im babylonischen Süden der Lyrik – FOLGE 6: »ADDENDA ZU AK‘ABAL (FOLGE 5). POEMA Y HOMENAJE POETOLÓGICO«

Tobias Burghardt flaniert jeweils am 5. eines Monats auf DAS GEDICHT blog durch die südlichen Gefilde der Weltpoesie. In der Rubrik »Im babylonischen Süden der Lyrik« werden Sprachgemarkungen überschritten und aktuelle Räume der poetischen Peripherien, die innovative Mittelpunkte bilden, vorgestellt.

 

Tobias Burghardt

KIESEL

für Mayulí und Kaqulja Ak’abal

Auf einmal
jenen dunklen Satz
erinnern.

Manchmal
die mürbe Stimme
des Echos hören.

Irgendwann einmal wieder
auf dem Faden
des Vergessens tanzen.

Von Mal zu Mal
einen weiteren Kiesel
auf die Stille legen.

Diesmal
mit einem Sprung
ins Wasser eintauchen.

Abermals
die Mühsal
für Brosamen zerstreuen.

Jedesmal
auf die Wiederkehr
des Stieglitzes warten.
 

Tobias Burghardt und Humberto Ak’abal (Foto: Delta-Archiv, Stuttgart)
Tobias Burghardt und Humberto Ak’abal
(Foto: Delta-Archiv, Stuttgart)

 

Tobías Burghardt

GUIJARROS

a Mayulí y Kaqulja Ak’abal

De una vez,
acordarse de aquella
frase remota.

Alguna que otra vez,
oír la friable voz
del eco.

Una vez u otra más,
bailar sobre el hilo
del olvido.

De vez en vez,
colocar otro guijarro
sobre el silencio.

Esa vez,
sumergirse en el agua
de un brinco.

Otra vez,
disipar las fatigas
por migajas.

Cada vez,
aguardar el regreso
del jilguero.
 

Haroldo de Campos beim VI. Internationalen Poesiefestival in Medellín 1996 (Foto: Delta-Archiv, Stuttgart)
Haroldo de Campos beim VI. Internationalen Poesiefestival in Medellín 1996
(Foto: Delta-Archiv, Stuttgart)

 

Haroldo de Campos

UNA POESÍA DE CONTRACONQUISTA

Ak’abal practica un arte poético de «contraconquista» (para usar de un concepto ya célebre, derivado de la Expresión Americana de Lezama Lima). Lo practica sin embargo, en un modo personalísimo, radical. Compone su poesía desde el trasfondo de una lengua a-gráfica, que no se apoya en la escritura, y que se enarbola como una planta indomable nutrida por su vestuta tradición oral: el maya-quiché.

Al impulso violento de las estructuras de esa lengua llena de onomatopeyas y cargada de concretud, hace doblar el castellano, hácelo someterse a la magia telúrica de ese idioma encantado por su contigüidad umbilical respecto al reino de la naturaleza.

De esa práctica simbiótica resulta un lenguaje edénico, de nombración adánica, donde el mundo de los seres y el mundo de las cosas permanecen en estado de comunicación auroral, preservados de la culpa y de la excisión, intactos.

El arte poético de Ak’abal convierte el español en una lengua que tiene más de oriental que de occidental, donde, como en el animismo xintaoísta japonés, se cultiva la «pasión compasiva por las cosas» (mono no aware), holística fusión sujeto-objeto.

Su poesía es, así, una ideografía oral, donde los sonidos tienen algo de caligráfico como conducidos por las plumas que guían el vuelo de los pájaros; donde la sintaxis es una danza coreografiada por la pupila centelleante y firme de un jaguar que dibujara – arqueando sus músculos flexibles – las estrategias de su caza. La meta de esa poesía: dar en el blanco de la página con la flecha-palabra y en ella instaurar su cosmovisión palpitante. Y – para goze de nuestros sentidos y fiesta de nuestro intelecto – invariablemente la alcanza.

Medellín, 18/19 de junio de 1996
 

Haroldo de Campos

EINE POESIE DER GEGEN-EROBERUNG

Humberto Ak’abal handhabt eine Poetik der «Gegen-Eroberung» (um einen bereits berühmten Begriff zu gebrauchen, der vom kubanischen Lyriker José Lezama Lima stammt). Er handhabt sie jedoch auf äußerst persönliche, radikale Weise. Seine Gedichte schreibt er auf dem Hintergrund einer a-graphischen Sprache, die sich nicht auf eine Schrift beruft und sich wie eine unbezähmbare Pflanze verzweigt, genährt von ihrer uralten mündlichen Tradition: die Maya-Sprache Quiché.

Mit dem starken Impuls der Strukturen dieser Sprache, die eine Fülle onomatopoetischer Wörter und lauter konkrete Bezüge aufweist, bezwingt er das Spanische und bannt es in die tellurische Magie seiner bezaubernden Sprache, nahe der Nabelschnur der Natur.

Aus dieser symbiotischen Handhabung entsteht eine paradiesische Sprache der ersten Namensgebung, in der die Welt der Lebewesen und die Welt der Dinge in einem Zustand des frühmorgendlichen Gespräches verbleibt, geschützt vor der Schuld und der Vertreibung, unberührt.

Die Poetik von Humberto Ak’abal verwandelt das Spanische in eine Sprache, die mehr Östliches als Westliches trägt, in der – wie im shintoistischen Animismus Japans – die »mitleidende Passion für die Dinge« (mono no aware) gepflegt wird, die holistische Vereinigung von Subjekt und Objekt.

Seine Poesie ist somit eine mündliche Ideographie, in der die Laute eine Art Kalligraphie sind, als ob sie von den Federn geleitet würden, die den Vogelflug führen, und die Syntax ein choreographierter Tanz in den festen und leuchtenden Augen eines Jaguars wäre, der die Strategien seiner Jagd aufzeichnet, während er mit seinen geschmeidigen Muskeln spielt.

Das Ziel dieser Poesie ist der Treffer auf dem weißen Blatt – mit dem Pfeil der Sprache, um dort seine pulsierende Sicht zu begründen. Und zum Genuss unserer Sinne und als Fest unseres Geistes erreicht Humberto Ak’abal unweigerlich sein Ziel.

Medellín, den 18./19. Juni 1996
 

Ins Deutsche übertragen von Juana und Tobias Burghardt
 

Humberto Ak’abal: Uxaq che' xuquje ik' – Hojas y luna – Blätter und Mond»Uxaq che’ xuquje ik’ – Hojas y luna – Blätter und Mond« in der Edition 350 im Verlag der Kooperative Dürnau kaufen

 

Tobias Burghardt. Foto: privat
Tobias Burghardt. Foto: privat
Tobias Burghardt (Jahrgang 1961) ist Lyriker, Übersetzer und Verleger der Stuttgarter Edition Delta (www.edition-delta.de). Er veröffentlichte mehrere Lyrikbände, darunter seine Fluss-Trilogie und zuletzt »Septembererde & August-Alphabet« (2010). Seine Gedichte wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und Einzeltitel erschienen in Argentinien, im Irak, in Japan, Portugal, Serbien, Schweden und Venezuela. Er ist Mitbegründer und Koordinator des »Babylon Festivals für Internationale Kulturen & Künste«, das seit 2012 jährlich in Babylon und Bagdad stattfindet. Mit seiner Frau Juana Burghardt überträgt er lateinamerikanische Lyrik, katalanische Poesie, lusophone Lyrik und spanische Poesie. Sie sind Herausgeber und Übersetzer der Werkreihe von Miquel Martí i Pol, aus der Pep Guardiola im Sommer 2015 im Literaturhaus München las, und seit Herbst 2014 der Stuttgarter Juarroz-Werkausgabe, dem wir das GEDICHT-Motto »Ein Gedicht rettet einen Tag« (Roberto Juarroz) verdanken. Tobias Burghardt war GEDICHT-Redakteur der ersten Stunde und organisierte immer wieder wunderbare Sonderteile mit lateinamerikanischer Poesie für unsere Zeitschrift DAS GEDICHT.
Alle bereits erschienenen Folgen von »Im babylonischen Süden der Lyrik« finden Sie hier.

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