Im babylonischen Süden der Lyrik – FOLGE 85: »SCHLACHTFELD, SCHLACHTFELD!« – DAS SCHEITERN DER POESIE?

Tobias Burghardt flaniert jeweils am 5. eines Monats auf DAS GEDICHT blog durch die südlichen Gefilde der Weltpoesie. In der Rubrik »Im babylonischen Süden der Lyrik« werden Sprachgemarkungen überschritten und aktuelle Räume der poetischen Peripherien, die innovative Mittelpunkte bilden, vorgestellt.

 

»SCHLACHTFELD, SCHLACHTFELD!« – DAS SCHEITERN DER POESIE?

Der 24. Februar war schon immer, seitdem ich denken kann, der Geburtstag meines Vaters. Und er hat es nicht verdient, wiederholtermaßen in seiner Abwesenheit gestört zu werden, die im nächsten Hochsommer beinahe zwei Jahrzehnte währt.

 

SCHLACHTFELD

Politikverlust
ist auch Poesieversagen —
das Wort gilt nicht mal?

 

Würde aber das Wort, das Gespräch, sprich: der Dialog, nicht einmal mehr zählen, wird wohl etwas verlustig gegangen sein; dann hätten beiderlei Seiten – und noch weitere – gänzlich versagt. Also auch die Poesie?

Das verlorene Wort wäre demnach keineswegs »Panzer« oder gar »Kampfjets« und selbst andere »Waffensysteme«, nur weil gerade darüber das Wort verloren wird.

Nebenbei gesagt, das aktuell inflationäre Wort lautet schlechterdings »Schlachtfeld«, eventuell als Abzählreim, der geflissentlich reimlos daherkommt:

»Schlachtfeld, Schlachtfeld!
Alles muss ver-rückt sein.«

Beim Zählen wird ins Gegenüber vom Nichts gezählt. Jede Zahl, das leise Echo eines Namens, der schon nicht mehr genannt wird, die Stille, das Schweigen, ein Leben mit seinem Tod, soweit ich sehe:

Sind da allzuhauf meschugge?

Ist jetzt alles & jedesle ver-rückt?

Womit verbandelt und bündelt die Welt hier sonst ihren Frieden?

Sind Politik, Diplomatie, Gespräch wie Poesie hierob gescheitert?

Das Wort: wirklich verloren, ungültig, fade, versteckt, sinnlos, nichtig, ohne Bedeutung, verlassen, invalide, erinnerungslos, hohl und leer?

Am 24. Februar 2023 denke ich an meinen Vater und das Wort Schweigen, das Wort Schatten, das verlorene Wort – und an das Leben, siehe auch »Im babylonischen Süden der Lyrik« Folge 75 und Folge 76.

 

"Septembererde & August-Alphabet" von Tobias Burghardt
Buchcover-Abbildung (Edition Delta)

 

 

 

 

 

»Septembererde & August-Alphabet«
von Tobias Burghardt
bei Edition Delta

 

 

Tobias Burghardt. Foto: privat
Tobias Burghardt. Foto: privat

Tobias Burghardt (Jahrgang 1961) ist Lyriker, Essayist, Übersetzer und Verleger der Stuttgarter Edition Delta (www.edition-delta.de). Er veröffentlichte den Essayband »Ein Netz aus Blicken. Essays für lateinamerikanische Lyrik« und mehrere Lyrikbände, darunter seine Fluss-Trilogie sowie »Septembererde & August-Alphabet«. Zuletzt erschien seine Werkauswahl »Mitlesebuch 117« (Aphaia Verlag, Berlin/München 2018), sein aktueller Gedichtband »Die Elemente der See« und die umfangreiche Werkauswahl 19912021 »Das Gedächtnis des Wassers«.  2020 erhielt er den Internationalen Poesiepreis »Città del Galateo – Antonio de Ferrariis« in Rom, Italien. Seine Gedichte wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und Einzeltitel erschienen in Argentinien, im Irak, in Japan, Kolumbien, Portugal, Serbien, Schweden, Uruguay und Venezuela. Er ist Mitbegründer und Koordinator des »Babylon Festivals für Internationale Kulturen & Künste«, das seit 2012 jährlich in Babylon und Bagdad stattfindet. Mit seiner Frau Juana Burghardt überträgt er lateinamerikanische Lyrik, katalanische Poesie, lusophone Lyrik und spanische Poesie. Sie sind Herausgeber und Übersetzer der Werkreihe von Miquel Martí i Pol, aus der Pep Guardiola im Sommer 2015 im Literaturhaus München las, und seit Herbst 2014 der Stuttgarter Juarroz-Werkausgabe, dem wir das GEDICHT-Motto »Ein Gedicht rettet einen Tag« (Roberto Juarroz) verdanken. Im Frühjahr 2017 wurden beide für ihr jeweiliges poetisches Werk und ihr gemeinsames literarisches Engagement zwischen den Kulturen und Sprachen mit dem »Internationalen KATHAK-Literaturpreis« in der südasiatischen Metropole Dhaka, Bangladesch, und als Verlagsteam der Edition Delta mit dem »Deutschen Verlagspreis 2021« des Kulturstaatsministeriums, Berlin, ausgezeichnet. Tobias Burghardt war GEDICHT-Redakteur der ersten Stunde und organisierte immer wieder wunderbare Sonderteile mit lateinamerikanischer Poesie für unsere Zeitschrift DAS GEDICHT.
Alle bereits erschienenen Folgen von »Im babylonischen Süden der Lyrik« finden Sie hier.


 

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