rezensiert von David Westphal
Ich habe heute eine überraschende Einladung bekommen: Der Schriftsteller Zoran Drvenkar und die Photographin Corinna Bernburg möchten mich gerne ein Jahr lang mit auf ihre Reise nehmen. Wir sind uns zwar noch nie zuvor begegnet, aber ihre Einladung ist keineswegs aufdringlich, denn sie richtet sich – in Form eines künstlerischen Dialogs – an alle. Die Rede ist von ihrem gemeinsam gestalteten Buch »Könnte ich meine Sehnsucht nach dir sammeln«, erschienen Ende Mai im cbj-Verlag. Es ist durchaus ein außergewöhnliches Projekt. Die Photographin schießt jeden Tag ein Bild und der Autor muss noch vor Mitternacht ein Gedicht dazu schreiben; »Tag für Tag für Tag für Tag – ein ganzes Jahr lang«, aufgeteilt auf vier Bücher, so beschrieben in einer kurzen Vorrede an den Leser.
Das Jahr ist ein immer wiederkehrender Topos in der Dichtung und in der Kunst allgemein. Wenig überraschend, ist doch die im Wechsel der Jahreszeiten offenbarte Zeit ein Thema, das jeden Menschen betrifft, beschäftigt, ärgert und freut. Gleichzeitig blickt ein Künstler ins Angesicht einer langen Geschichte von Jahreszyklen, deren Blick er standhalten muss. Das Künstlerduo jedoch scheint schon im Vorfeld ein Konzept entworfen zu haben, das es so bisher noch nicht gab: Drvenkar und Bernburg setzen sich dem Jahr aus und arbeiten täglich unter Hochdruck, ohne wenn und aber. Das Konzept ist neu und herausfordernd, aber die Frage ist nun: Entstehen unter Druck Diamanten oder zerbröckelt die Kunst in ihre Bestandteile? Anders gefragt: Taugt das Anrennen gegen die Zeit als künstlerische Arbeitsweise oder hätten es der Autor und die Photographin doch lieber mit Muße probieren sollen? Wir werfen einen Blick in das erste von vier Büchern; Sommer.
Konkret bewegt sich das mit silbergrauem Hardcover gebundene Buch zwischen 8. Juli und 5. Oktober. Je Tag, der am unteren Rand kalenderartig angezeigt wird, ist auf der linken Seite eine Schwarzweißphotographie und auf der rechten Seite ein Gedicht dazu. Tatsächlich ist jeder einzelne Tag vertreten, die Seitenzahlen sind also überflüssig.
Blättert man auf die erste Seite, kommen dem Betrachter ein Paar Schuhe entgegen. Sie stehen im dunklen Raum, bei halb geöffneter Tür. Im Hintergrund reflektieren helle Außendielen auf die Hacken der Schuhe, die bis zur ihren Spitzen abdunkeln. Es ist ein Bild, das, wie es scheint, stark an Van Goghs Paar Schuhe erinnern soll. Blättert man auf die letzten Seiten, findet sich dort jede Photographie in Miniatur mit kurzem Kommentar der Photographin. Dort finden wir heraus, dass es sich um die Schuhe des Dichters handelt; ebenso wissen wir mittlerweile, dass Van Gogh nicht etwa gebeutelte Bauernschuhe malte, so wie es Heidegger in seinem einflussreichen Aufsatz zum Kunstwerk breit auffächert, sondern um die Schuhe des Künstlers selbst. Mit dieser sehr gelungenen Photographie sind die Erwartungen für den kommenden Sommer sehr hoch gesteckt und die »erwartungen« (Titel des 8. Julis) werden weiter geschürt, wenn der Betrachter zum Leser wird und auf der rechten Seite beginnt zu lesen: »anfangs / warten sie noch geduldig«.
Allgemein gesprochen sind die Photographien unprätentiös, natürlich und vielfältig. Die Motive bewegen sich zwischen Urbanität, Menschlichkeit, Naturhaftigkeit und ihren Schnittstellen – alles nicht inszeniert, sondern so geschossen wie gesehen. Durch die Kommentierung der Photographin kann man ihre Wege nachschreiten und bekommt eine im Charme der Grautöne geschriebenen Geschichte erzählt. Sie handelt von der Romantik alltäglicher Gegenstände, von interessanten Begegnungen und auch von der Not, photographieren zu müssen: »Ich habe vergessen, ein Foto zu machen […]. Gebremst, fotografiert und weitergefahren.« Diese Not allerdings, die das Bild hätte bedrohen können, ist Teil des Einfallsreichtums der Bilder geworden. Keine Photographie ist wie die andere und durch die meist engen Bildausschnitte ist das Auge gezwungen genau hinzusehen und die Phantasie dazu angehalten aktiv zu werden, um die Bildgrenzen zu sprengen.
Eine ganz andere Geschichte wissen die Gedichte zu den Photographien zu erzählen: nicht die Entstehungsgeschichte, sondern die ›Seele‹ selbiger möchten sie finden. Die Gedichte sind sehr prosaisch und ohne große Effekte; genau das, was die Photographien benötigen. Die Bezüge zu den Bildern sind mal sehr offensichtlich, mal etwas verschleiert und mal allegorisch, aber nie unpassend oder störend, sondern stets in gewisser, aber unterschiedlich spannender Harmonie. Der in der Photographie einsame, schon angefressene Pilz am 3. September wird im Gedicht zu einer Person, »immer darauf wartend / dass du mich findest entdeckst«; hingegen das photographierte Portrait einer Taube wird dem Dichter gleichfalls zum »portrait einer taube«, die sich von ihrer Schokoladenseite zeigt. Genau wie die Bilder zeugen die Gedichte von großem Einfallsreichtum, der sogar einen Psychopathen beinhaltet, der zum Wohle der Menschen mordet.
Zweifelsohne gelingt dem Künstlerduo ein vielschichtiges und wohlkomponiertes Buch, das gewiss jedem Rezipienten Freude bereitet, zum Blättern einlädt und den Spieltrieb weckt: »Kuck mal nach deinem Geburtstag!« Der Entstehungshintergrund ist ein aufregendes Detail, das im Hinterkopf bleibt, das Werk an sich blieb unversehrt von dem zeitlichen Druck – gleiches gilt hoffentlich auch für dessen Schöpfer. Liest man das Buch am Stück, fehlen manchmal jedoch etwas der Mut und die Brisanz in den einzelnen Kompositionen. Aber nicht alles muss sich mutig und hochbrisant zeigen, um auch lesenswert zu sein. Es darf auch einfach durch Schönheit betören und nachdenklich stimmen. Ich nehme also dankend die Einladung der Künstler an, freue mich auf die drei folgenden Bücher und bin gespannt, welche Rolle der Jahreszeitenwechsel haben wird. Ach, und die Erwartungen – die wurden nicht enttäuscht!
Zoran Drvenkar / Corinna Bernburg
Könnte ich meine Sehnsucht nach dir sammeln
Fotos & Gedichte
cbj, München 2015
Hardcover, 200 S.
€ 22,99 (D)
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