rezensiert von David Westphal
Armando Silva Carvalho, geboren 1938 in Portugal, mit fünfzehn Jahren nach Lissabon gezogen, ist in Portugal und ganz besonders in der in diesem Band bedichteten Stadt Lissabon keineswegs ein unbeschriebenes Blatt. Seine Lyrik gewinnt seit etlichen Jahren eine Vielzahl an Preisen und Carvalho wird teilweise als »einer der interessantesten portugiesischen Autoren der Gegenwart« gehandelt, wie es im Nachwort des Bandes heißt. Insofern leisten die Schriftstellerin Ilse Pollack und der Schweizer Verlag teamart einen wichtigen Beitrag für die deutschsprachige Lyrikwelt, indem sie Carvalho erstmals in einem eigenständigen Gedichtband übersetzen und zweisprachig herausgeben.
Das Buch enthält ein Vorwort von Ilse Pollack, Carvalhos Gedichte im portugiesischen Original wie auch in deutscher Übersetzung, die Bio-Bibliographie des Dichters und eine Photographie von selbigem. Der Band versammelt eine repräsentative Auswahl von Gedichten aus dem im Jahre 2000 auf Portugiesisch erschienenen, gleichnamigen Titel sowie einzelne Poeme aus anderen Werken des Dichters.
Was der Titel verspricht ist eine Stadtführung durch Lissabon. Warum sollte sich aber ein Dichter mit einem Stadtführer abgeben, wo doch tausende Redaktionen dieser Welt schon derartige Reiseliteratur veröffentlichen? Er nimmt den Leser mit zu einem Rundgang der Gefühle durch »Lisboa«, also die Stadt Lissabon; durch die vielen Gesichter und Facetten, die eine Großstadt wie sie ausmachen. Wenn man, so wie ich, noch nie zuvor in Lissabon war, sollte man das Versprechen des Titels ernst nehmen und sich fragen: Welches Bild vermittelt mir der Autor, wie stelle ich mir Lissabon nach der Lektüre vor?
Nach den ersten Seiten merkt man sofort, dass der Dichter es ernst meint mit seiner Stadtführung der Gefühle, dass hier nicht nur auf die Schnelle ein Buchtitel für Poesie, die halbherzig etwas mit irgendeiner Stadt zu tun hat, gesucht wurde. In so gut wie jedem Gedicht stecken mehrere Anspielungen auf konkrete Plätze und Straßen und Nennungen von Institutionen sowie Personen der Stadt, deren Geschichte und Gegenwart, Politik und realen Problemen. In »Goldener Sand« beispielsweise tauchen sowohl Lord Byron (1788–1824), der 1809 im Tejo geschwommen sein soll, als auch Marques de Pombal (1699–1782) auf, portugiesischer Staatsmann, der eine wichtige Rolle beim Wiederaufbau der Innenstadt nach dem Erdbeben 1755 spielte. Ein besonders subtiles Beispiel kann man aus »Die Schwarzen von Bijagós« entnehmen: »Zu Fuß ging er durch diese schwarz gepflasterten Orte / zwischen Mauern […] / und silbernen Armen, die eine Armee bestückten.« Die silbernen Arme verweisen auf den Stadtteil braco de prata (wörtlich: silberner Arm), in dem früher eine Waffenfabrik stand. Des weiteren geht es um ehemalige Industriekomplexe wie den sogenannten CUF, um einen Toys ‘R’ Us, der in der Stadt Einzug hält, um ehemalige Künstler, Architekten, Politiker und Reisende und so fort. In diesem Sinne sind die Gedichte also fest mit der Stadt verwurzelt.
Nun ruht sich Carvalho aber nicht auf bloßer Schilderung von zufällig gewählten Schauplätzen und anderen Merkmalen der Stadt aus. Vielmehr erinnern die Gedichte an die – freilich eher deutsche – Linie der Großstadtlyrik, die von den Expressionisten des frühen zwanzigsten Jahrhunderts begründet wurde. Die Expressionisten haben sich in ihrer Großstadtlyrik immer konkret, effektvoll und in höchstem Maße subjektiv gezeigt. Beispiele dafür sind Georg Heym, Georg Trakl, Jakob van Hoddis und Paul Zech. Carvalho folgt dieser Strömung und verdichtet auf eben diese expressionistische Manier den Stadtführer zum »Stadtführer der Gefühle«. Jedes Gedicht zeigt Menschen, die, wie man so sagt, in ihrer Stadt gelebt, geliebt und gelitten haben. Am Grunde seiner Lyrik schafft er das, was der Lonely Planet anpreist: Man besucht die Stadt nicht als Tourist, sondern man lebt mit ihr. Dazu gehören aber auch die politischen Probleme, Armut neben Reichtum, Einwanderung und Diskriminierung. Lissabon ist eine Stadt, in der Wasser eine große Rolle spielt – zwischen Tejo und dem Meer – und deren Facetten so widersprüchlich, wie schön sind. Aber auch eine gewisse Melancholie schwingt immer mit. So jedenfalls zeigt sich mir die Stadt in Armando Silva Carvalhos Stadtführung und ich bin gespannt, wie es sich anfühlen wird, wenn ich die Stadt in vivo kennen lerne!
Man könnte sich an der Stelle fragen: Wie sollte ich wissen, was ein Bijagós ist, oder wie die Namen der Stadtteile von einer mir unbekannten Stadt heißen? Pollack nutzt hierfür sinnvoll Fußnoten, in denen viele Erklärungen zu den Personen und Orten zu finden sind. Auch wenn es eher ungewöhnlich ist, Teile von Gedichten in Fußnoten zu erklären, tut sie sehr gut daran. Vieles würde sich dem Leser ohne die kurzen Erläuterungen versperren, so als lauschte man zwei Einwohnern einer Stadt, die sich wie selbstverständlich über ihren Wohnort austauschen, ohne dass man selbst dagewesen ist. Man verstünde eben nur die Hälfte und würde nachfragen: Was ist dieses, was bedeutet jenes? Pollack nimmt sich dieser Fragen an und beantwortet sie für uns. So viel zu dem vergnüglichen Teil – der einnehmenden Großstadtlyrik Carvalhos, die sicherlich jeden Literaturpreis und jede Ehrung verdient hat.
Ein paar kritische Worte möchte ich dennoch verlieren: Ich hätte diesem Band eine etwas sorgfältigere Redaktion gewünscht. So wundert man sich beim Lesen etwa der Gedichte »Thomas Mann war beim Stierkampf« oder »Salongespräch« über die Platzierung der Fußnoten und auch einige Rechtschreibfehler haben sich eingeschlichen. In einer Neuauflage, die dieses Buch in jedem Fall verdiente, wären hier Nachbesserungen wünschenswert.
Auch Pollacks Übersetzung hat gewöhnungsbedürftige Besonderheiten. Viele Dichter, die sich mit fremdsprachiger Lyrik befassen, bemühen sich, den Begriff Übersetzung zu vermeiden und weichen auf Übertragung oder Nachdichtung aus. Das hat den Grund, dass sich Literatur und ganz besonders Lyrik nicht einfach von einer in die andere Sprache übersetzen lässt. Sei es ein Wortwitz, seien es Mehrdeutigkeiten oder Wortkombinationen, welche in direkter Übersetzung einfach nicht funktionieren. Bei Pollack wirken viele Sätze starr und von der Satzstellung her identisch mit dem Portugiesischen, somit ähnelt ihre Übertragung einer Interlinearübersetzung der Originale. Das verursacht Inversionen im Deutschen und klingt teilweise ›unnatürlich‹, zum Beispiel: »Die Stadt stößt einen weiteren letzten Seufzer aus / der immer ist eine Art Elefanten / Orgasmus«. Dementsprechend zurückhaltend zeigt sich Pollack bei sprachspielerischen Herausforderungen: Ein Gedicht Carvalhos heißt »Natureza viva«. Es ist eine Wortneuschöpfung zum Gegenstück Natureza morta, zu deutsch: Stillleben. Anstatt zu versuchen, dieses Wortpaar angemessen ins Deutsche zu übertragen und etwas Spannendes, gleichwohl nicht Identisches, zu schaffen, wird der Titel übernommen und eine Fußnote gesetzt. Meiner Meinung nach hätte Pollack sich hier deutlich mutiger zeigen können; denn so ehrbar der Versuch ist, möglichst nahe am Original zu bleiben, so ist es doch ein unmögliches Unterfangen, Gleichartigkeit zu schaffen. Leser, die des Portugiesischen mächtig sind, können deshalb vermutlich mehr Genuss aus der Lektüre ziehen, als solche die ausschließlich auf die deutschen Versionen der Gedichte angewiesen sind.
Warum »Lisboas. roteiro sentimental / Lissabon. Ein Stadtführer der Gefühle« trotz der Kritikpunkte ein wertvolles Werk ist? Ganz einfach: wegen der Gedichte an sich und wegen der bisherigen Einzelstellung des Bandes im deutschsprachigen Raum. Carvalhos Lyrik setzt sehr stark auf bildreiche Sprache und weniger auf Rhythmus oder Wortspielereien, und diese Bilder wirken auch in den Übersetzungen. Er beschenkt uns mit Metaphern wie: »Die Seele ist ein Naturschutzgebiet des Leidens«, oder »Er kehrt nach Hause zurück als Kind / des Schlammes / und bläst […] aus die aufsässigen Kerzen / seines Tages«.
Armando Silva Carvalho / Ilse Pollack
Lisboas. roteiro sentimental / Lissabon. Ein Stadtführer der Gefühle
Gedichte, zweisprachig portugiesisch-deutsch
teamart, Zürich 2015
Softcover, 152 S.
€ 20,00 (D)