Lockdown-Lyrik 2.0 / 001: »der gelbe koffer« von Sabine Schiffner

»Lockdown-Lyrik 2.0! Quarantäne poetisch ausleuchten – etwas ernst zu nehmen heißt nicht, sich davon unterkriegen zu lassen« ist eine Online-Sammlung von Gedichten, die sich mit der Corona-Krise befassen. Es darf uns weiterhin die Sprache nicht verschlagen! In loser Folge erscheinen neue Episoden der nun von Sabine Schiffner, Anton G. Leitner, Alex Dreppec und Fritz Deppert herausgegebenen Anthologie (Dank an Jan-Eike Hornauer für die Mitherausgeberschaft bei Folge 1-154).

 

Porträt Sabine Schiffner (Gemälde von Rolf Kuhlmann9
Porträt Sabine Schiffner: Ausschnitt aus einem Gemälde von Rolf Kuhlmann (mit dessen freundlicher Genehmigung verwendet)

Sabine Schiffner

der gelbe koffer

in einer dunklen ecke
meines wohnungsflurs steht er
und staubt schon langsam vor sich hin
ich hab ihn ausgeräumt er ist ganz leer
trägt noch die spuren letzter reisen da
hängt der streifen von dem flug nach
palma de mallorca von vor vier
wochen da sind noch scanaufkleber
die ich jetzt ablösen kann

in einer dunklen ecke
meines wohnungsflurs steht er
so da als wollt er wieder leuchtend
rollen vom auto durch den
flughafen auf laufbändern und in
kabinen er hat jetzt ruhe kann wie ich
die stille spüren und den himmel ohne
kondensstreifen die luft ohne den smell
von kerosin

© 2020 by Sabine Schiffner, Köln.
(Redaktion: Anton G. Leitner)

 

Porträt Sabine Schiffner
Sabine Schiffner. Foto: Kerstin Nieke

Sabine Schiffner, 1965 geboren in Bremen. Ihr erster Gedichtband erschien 1994 (»besteck im kopf«). Seither sind eine Reihe von Romanen, Hörspielen und Gedichtbänden erschienen, zuletzt »super ach« (2018) in der Edition Rheinland. Sie hat für ihre Texte viele Preise und Stipendien erhalten, u. a. den Jürgen-Ponto-Preis für das beste Romandebüt (2004) und die Ehrengabe der Deutschen Schillerstiftung (2014). Sie arbeitet als Übersetzerin und Nachdichterin aus dem Französischen, Spanischen und Georgischen und ist 2021 Stipendiatin der Kunststiftung NRW im Atelier Galata in Istanbul.

Statement von Sabine Schiffner zur »Lockdown-Lyrik«:

»Aus dem Fenster schauen / In den Kopf schauen: Was bleibt uns anderes übrig? Und doch tun und haben wir Dichter nie etwas anderes getan beim Schreiben! Ich stelle mir vor, dass die Gedichte, die ich aussuche, Kopfgeburten und Augenschmause sind, die uns andere Ein- und Aussichten gewähren, als die, die wir mit unserem beschränkten Lockdownhorizont haben.«

 

 

 

Lockdown Lyrik 2.0. Wir hatten gehofft, dass es zu keinem zweiten Lockdown mehr kommen würde. Aber jetzt ist er angeordnet, der sog. »Wellenbrecher-Lockdown«. Er beginnt in Deutschland ab Montag, den 2. November 2020 – mit der Aussicht auf triste Herbst- und Wintertage. Grund genug für die Redaktion der Jahresschrift DAS GEDICHT, ihre vieldiskutierte Netz-Anthologie zur Corona-Krise vom Frühjahr 2020 wieder hochzufahren. Möge diese Online-Sammlung zur Pandemie uns allen einmal mehr dabei helfen, tief Luft zu holen und möglichst viele Aspekte der weltweiten Katastrophe mit dem Instrumentarium der Lyrik auszuleuchten, damit wir und unsere Leserinnen und Leser mental nicht unter die zweite Welle geraten!

Sabine Schiffner, Alex Dreppec, Fritz Deppert und Anton G. Leitner
 
PS: Alle bereits geposteten Folgen von »Lockdown-Lyrik! Quarantäne querdenken – etwas ernst zu nehmen heißt nicht, sich davon unterkriegen zu lassen« finden Sie hier. In loser, jedoch zügiger Folge wird die Sammlung erweitert.

 

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