Nachgebildet ist Axel Kutschs »Abschied« dem berühmten Pflaumen-Gedicht von William Carlos Williams, das im Original »This Is Just To Say« heißt und in der deutschen Übertragung, abhängig vom Übersetzer, etwa »Was ich noch sagen wollte« oder »Ich wollte nur sagen«. Durch diese Erbfolge erhält es auch einen besonderen Grusel, einen grotesken Reiz und durchaus auch ein Plus an herrlicher Schwarzhumorigkeit: Wie für Williams typisch, bezieht er sich in seinen Versen auf eine konkrete, banale Alltagssituation – die zugleich für sich steht und weit über sich hinaus ins Grundsätzliche weist. Bei ihm hat das lyrische Ich aus purer Gier heraus Pflaumen aus dem Kühlschrank entwendet und gegessen – wohl wissend, dass jemand anders, wahrscheinlich die Frau oder Freundin, sie für’s Frühstück hatte aufheben wollen.
Das lyrische Ich entschuldigt sich dafür, ob direkt oder im Geiste oder auf einem Zettel bleibt offen. Echte Reue versprühen die Verse aber nicht; sie wirken viel mehr so, als erwartete das lyrische Ich, dass ihm seine Triebhaftigkeit, seine Impulsivität vergeben werden müsste, weil er als bewusste Person quasi unverantwortlich für sie ist und sein muss. Es läuft hinaus auf ein recht rücksichtsloses: Es hat mich überkommen, sorry, ey, aber was soll man schließlich machen?
Diese Rücksichts- und Verantwortungslosigkeit macht das lyrische Ich bei Williams nicht sympathisch. Aber der konkrete Vorfall, so tief er vielleicht auch blicken lässt und wie sehr er auch als Warnung dienen kann, ist erst einmal von berückender Harmlosigkeit, er zeitigt nun wirklich keine bedeutenden Konsequenzen: Es wurde eine kleine Leckerei wegschnabuliert – das war’s.
Axel Kutsch hat nun, um dieses Gedicht in ein Grusel- und Horrorgedicht zu transformieren, den Gedichtgegenstand verändert: Bei ihm werden nicht Pflaumen vernichtet, sondern ein Mensch wird es. In Form, Ton und Vortrag bleibt er dabei dem Original frappierend treu – was in sich schon schauerlich, grotesk und komisch wirkt, vor dem Hintergrund des Originals im Effekt aber noch erheblich gesteigert wird. Und zugleich das Original in der Bedeutung weitet – es weist eben aus, wozu besagte Geisteshaltung im Extremen führt – und angenehm gruslig parodiert.
Bemerkenswert dabei ist auch, dass hier weiterhin ein prototypischer Beziehungsmoment dargestellt wird, und dieser wie im Original mit ungewissem Ausgang; wobei in beiden Fällen zu vermuten steht, dass die Beziehung nach dem Vorfall in eine – angemessen ausgeprägte – Krise(lei) gerät.
Das Neue bei Kutsch ist dabei nicht nur, dass der Vorfall ungleich radikaler und grenzüberschreitender ist, sondern auch dass er unmittelbar auf der Beziehungsebene wirkt: Der Nebenbuhler ist beseitigt, die Dreiecksgeschichte zu einer einfachen Verbindung geworden (und ggf. bald ganz aufgelöst), der für gewöhnlich Schwächste in der Konstellation hat sich in die Machtposition versetzt.
So gewaltige Verschiebungen und Umschwünge gibt es bei Williams freilich nicht. Und geht es bei ihm zwar auch irgendwie um alles, so ist doch erstmal nur von ein wenig Obst und einer alltäglichen Vorteilsnahme die Rede – und im übertragenen und erweiterten Sinne dann vom, für den Einzelnen ggf. sehr schmerzhaften, aber an sich banalen, Nicht-Gelingen einer Paarbeziehung.
Ungleich existentieller ist es da bei Kutsch, auch wenn der Ton gleich lapidar bleibt: Hier geht es um Leben und Tod und ganz offen ums romantische Liebesideal als heiligen Gral. Verhandelt wird das Ganze dabei wie bei Williams. Das macht es zugleich brutaler – und komischer, gerade in seiner ostentativen Kaltschnäuzigkeit und seiner perspektivischen Verdrehtheit (das Problem ist ja nicht der Mord, sondern – zumindest wird das behauptet und so der Mord an sich ja auch entschuldigt, denn er war demzufolge ja von unausweichlicher Schicksalhaftigkeit die Unhöflichkeit, dass das lyrische Ich der Geliebten mit der Tat zuvorgekommen ist).
Dass wahrer Horror am besten aus dem Alltag entsteht, ist eine Binsenweisheit, die etwa Stephen King mustergültig umsetzt. Axel Kutsch hat sie beherzigt – und mit gekonntem Schwung aus Versen über eine (scheinbare) Alltagsbanalität ein Horrorgedicht mit – wenn es sowas gibt – lässigem Pathos gemacht, ein schwarzhumoriges Schockpoem im Alltagssprech. Dabei lotet er in den wenigen Versen auch die menschlichen Untiefen ein Stück weit aus.
Das Original von William Carlos Williams und die Übersetzung von Heinrich Detering sind hier als Episode der namhaften »Frankfurter Anthologie« nachzulesen (freilich nebst einer Gedichtinterpretation durch Detering, die im Pflaumen-Poem eine fast perfekte Ehe symbolisiert findet und also eher die hier durchaus auch erkennbare Harmonie betont als jene Bruchlinie, die ich hier soeben betont habe – ein Ansatz, der übrigens gerade im Kontrast zum morbiden Kutsch-Nachbild einen besonderen weiteren Reiz entfaltet und ebenso mitbedacht werden sollte):
https://faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/frankfurter-anthologie/frankfurter-anthologie-william-carlos-williams-ich-wollte-nur-sagen-13589351.html