Lockdown-Lyrik 2.0 / 106: »Die Misteldrossel« von Irina Tabagua

»Lockdown-Lyrik 2.0! Quarantäne poetisch ausleuchten – etwas ernst zu nehmen heißt nicht, sich davon unterkriegen zu lassen« ist eine Online-Sammlung von Gedichten, die sich mit der Corona-Krise befassen. Es darf uns weiterhin die Sprache nicht verschlagen! In loser Folge erscheinen neue Episoden der nun von Sabine Schiffner, Anton G. Leitner, Alex Dreppec und Fritz Deppert herausgegebenen Anthologie (Dank an Jan-Eike Hornauer, Mitherausgeber Folge 1-154).

 

Irina Tabagua

Die Misteldrossel

Den Februar habe ich nun schon (r)umgebracht,
jetzt lösche ich den März aus,
dann erledige ich den April,
anschließend entschuldige ich mich bei meiner Waldrebe dafür,
dass sie erst im Mai wieder wachsen kann.

Okay, ich nehme mir das Leben.
Wenn auch damit für DICH nichts zu Ende geht, für mich aber schon.
Dieses Etwas ist doch nicht nichts,
auf jeden Fall mehr als den Hunger zu stillen und der Kampf ums Überleben.

Warum wundert mich das? Warum schreibe ich das? Für wen?
Mein Schreiben ist wie eine Bringschuld,
obwohl DU mir nichts geborgt hast.

Unser Tod ist so wertlos geworden,
er kostet nicht mehr als eine in der Mensa übrig gebliebene Fleischpastete.

Wir könnten als Beere wiedergeboren werden,
dann könnte ich damit zumindest eine Misteldrossel füttern,
die in der Morgendämmerung laut schreit
und sie würde mir zurufen, als DEINE Stimme:
Bleib zu Hause, rette dein Leben!
Sehe ich jetzt wirklich so aus wie eine, die gerettet worden ist?

 

ირინა ტაბაღუა

ჩხართვი

თებერვალი ხომ ჩავაძაღლე,
მარტსაც მოვუგრეხ კისერს,
აპრილსაც გავაჩერებ,
ჩემს დარგულ კლემატისსაც მოვუბოდიშებ,
მაისში უნდა აეყარა ტანი.

თავსაც მოვიკლავ,
შენთვის თუ არა,
ჩემთვის ხომ დასრულდება ეს რაღაც,
ეს რაღაც კი არც არაფერია,
მუცლის ძღომა და ომია მხოლოდ.

მიკვირს? რატომ ვწერ, ვისთვის ვწერ?!
ვალივითაა ეს წერა,
არადა, არც გისესხებია.

როგორ გაუფასურდა ჩვენი სიკვდილიც,
ბუფეტში შემორჩენილი ხორცის ღვეზელის ფასი აქვს.

კენკრადაც ვეღარ მოხვალ აქ.
სხვა თუ არაფერი, იმ ჩხართვს მაინც მოვიმადლიერებდი,
ყოველ განთიადს რომ გაჰკივის
და ღმერთივით ჩამომძახის:
– შინ დარჩი, გადარჩებიო.
აბა, მე გადარჩენილს რამე მიგავს?

 

© 2021 Irina Tabagua, Tblisi
(Übersetzung: Bela Chekurishvili, Nachdichtung und Redaktion: Sabine Schiffner)

 

 

Lockdown Lyrik 2.0. Wir hatten gehofft, dass es zu keinem zweiten Lockdown mehr kommen würde. Aber jetzt ist er angeordnet, der sog. »Wellenbrecher-Lockdown«. Er beginnt in Deutschland ab Montag, den 2. November 2020 – mit der Aussicht auf triste Herbst- und Wintertage. Grund genug für die Redaktion der Jahresschrift DAS GEDICHT, ihre vieldiskutierte Netz-Anthologie zur Corona-Krise vom Frühjahr 2020 wieder hochzufahren. Möge diese Online-Sammlung zur Pandemie uns allen einmal mehr dabei helfen, tief Luft zu holen und möglichst viele Aspekte der weltweiten Katastrophe mit dem Instrumentarium der Lyrik auszuleuchten, damit wir und unsere Leserinnen und Leser mental nicht unter die zweite Welle geraten!

Sabine Schiffner, Alex Dreppec, Fritz Deppert und Anton G. Leitner
 
PS: Alle bereits geposteten Folgen von »Lockdown-Lyrik! Quarantäne querdenken – etwas ernst zu nehmen heißt nicht, sich davon unterkriegen zu lassen« finden Sie hier. In loser, jedoch zügiger Folge wird die Sammlung erweitert.

 

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