Lockdown-Lyrik 96: »Italien, Februar 2020« von Ludwig Steinherr

»Lockdown-Lyrik! Quarantäne querdenken – etwas ernst zu nehmen heißt nicht, sich davon unterkriegen zu lassen« ist eine Online-Sammlung von Gedichten, die sich mit der Corona-Krise befassen. Es darf uns die Sprache nicht verschlagen! In loser Folge erscheinen neue Episoden der von Alex Dreppec, Jan-Eike Hornauer und Fritz Deppert herausgegebenen Anthologie.

 

Ludwig Steinherr

Italien, Februar 2020

Wir kehren heim im letzten Zug
gleich hinter uns schließt man die Grenze –

und Städte werden abgeriegelt
wie zur großen Pest

die Straßen ausgestorben
Geisterstraßen

Geschäfte hinter Gittern, leergeräumt

nur einzelne Gespenster
Mundschutzmasken –

Läuft noch Wasser
aus alten Brunnenmündern?

Und was geschieht hinter
geschlossenen Fensterläden?

Versammeln sich
wie zu Boccaccios Zeiten

edle Damen und Herren
um schlüpfrige Geschichten

zu erzählen
gegen die Panik?

Viel zu groß all die Vergleiche
raunt man

die Quarantäne
nichts als Hysterie –

Und doch: die große Stille
in den Städten

Zypressen-Schweigen

eine Zeitung weht im Wind

das gotische Pflaster lautlos hallend

erkennt den Schritt des

Schwarzen Todes wieder

und erbebt

 

© Ludwig Steinherr, München
 

[ Dazu gibt’s auch ein Video, vom Autor als Bonus für diesen Blog, genauer seine Leserinnen und Leser, erstellt. Ludwig Steinherr liest »Italien, Februar 2020«: https://www.youtube.com/watch?v=JuoPgKh0eVw ]

 

 

Zu dieser Reihe: »Lockdown-Lyrik! Quarantäne querdenken – etwas ernst zu nehmen heißt nicht, sich davon unterkriegen zu lassen« ist eine Online-Sammlung zu den aktuellen Auswirkungen der Corona-Krise. Wir wollen im Gespräch bleiben, während wir Infektionsketten unterbrechen. Wir wollen die Erfahrung der Vereinzelung miteinander teilen. Wir wollen virtuelle Brücken bauen. Wir wollen das tun, was wir können: dichten, die Welt – und auch die aktuelle Situation – poetisch erfassen.

Unser Anliegen ist es in jedem Fall, zu einem Mehr an Besonnenheit beizutragen, zu versöhnen statt zu spalten. Mit Sorge sehen wir überharte Diskussionen, wie sie derzeit online, aber auch offline zu häufig geführt werden. Klar ist uns: Es gehört zu einer Demokratie dazu, Konflikte auszutragen. Aber wir insistieren auch hierauf: Es ist ebenso unerlässlich, sich des Gemeinsamen, Verbindenden bewusst zu sein und zu werden sowie respektvoll miteinander umzugehen.

Uns ist bewusst, dass bereits der Ansatz, zur Corona-Pandemie eine Lyrik-Online-Anthologie herauszugeben, ihre Auswirkungen zeitnah lyrisch zu behandeln, und dies aus verschiedenen Perspektiven sowie in unterschiedlichen Tonlagen, als Provokation aufgefasst werden kann. So ist diese Sammlung keineswegs gemeint. Ihr Thema an sich ist jedoch eben hochemotional besetzt. Für uns, die Herausgeber der Reihe, bleibt trotzdem und gerade deshalb wichtig: Wir wollen Brücken bauen, Perspektiven weiten, der ungewohnten Situation mit poetischen Mitteln und im gemeinschaftlichen Sinne begegnen.

Bleiben Sie gesund!

Alex Dreppec, Jan-Eike Hornauer, Fritz Deppert
 
PS: Alle bereits geposteten Folgen von »Lockdown-Lyrik! Quarantäne querdenken – etwas ernst zu nehmen heißt nicht, sich davon unterkriegen zu lassen« finden Sie hier. In loser, jedoch zügiger Folge wird die Sammlung erweitert.

 

Ein Kommentar

  1. „Mir tut der ganze Körper weh, so arg ist mir’s, nicht in Italien zu sein.“
    das ist ein Zitat von Ingeborg Bachmann und so fühle ich mich wenn ich dieses sehr schöne traurige Gedicht von Ludwig Steinherr lese.

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