LYRIK-REVUE FOLGE 26: Schreib eine Zeile für mich, eine einzige Zeile für mich.

Auszeichnungen, Institutionen, Konferenzen, Lesungen, Poesie im Feuilleton und Lyrik-Neuerscheinungen: Nicola Bardola kommentiert und präsentiert am 20. eines Monats Bemerkenswertes aus der Welt der Verse.

 

Schreib eine Zeile für mich, eine einzige Zeile für mich.

Enzo Pelli wurde 1948 in Lugano geboren, arbeitete als Kulturredakteur beim Tessiner Fernsehen und veröffentlichte bislang vier Gedichtbände. Der vorliegende fünfte Band, „Plötzlicher Schatten“, stellt eine zweisprachige Auswahl daraus vor und enthält zudem Unveröffentlichtes. „Ombra improvvisa“ lautet der Titel auf Italienisch. Wie aus heiterem Himmel gelangen Gefühle und überraschende Erkenntnisse in die Texte, Lichtblitze und Dunkelheiten.

Der Mensch in der Natur taucht oft auf in Pellis Lyrik: Langgedichte über Wanderungen durch das Gebirge, über die Anziehungskraft der Tier- und Pflanzenwelt. Pelli ist auf der Suche nach dem Einklang der Gefühle, wenn er alleine beobachtet. Manchmal verstärken Begegnungen in der Einsamkeit den lyrischen Effekt, so beim Langlaufen: „Der Atem ist eine einzige leichte Musik, / die vom Rhythmus der Schritte skandiert wird. / Ich folge mit dem Auge den Profilen der Gipfel, / der Abhänge.“ Plötzlich aber überholt ihn ein Sportler, der all das nicht sieht, nicht sehen kann. Es geht bei Pelli um Rhythmus, um Harmonie. Ein Jogger bei Ponte Tresa läuft und beobachtet durch das Geäst die Lichtkontraste der Morgensonne über den Bergen. Er muss Atem schöpfen: Bei hohem Puls wäre es besser, kürzer zu treten, aber er läuft weiter. „Bald endet der Waldweg.“

Im Italienischen verstärkt sich der Klang des Beschriebenen: „Siedo da solo nell’ombra del bosco / la natura mi avvolge è così vicina / ma invisibili fischiano intorno / uccelli sconosciuti e di queste / piante mosse da un vento leggero / il nome mi è ignoto.“ Pelli sitzt alleine im Schatten des Waldes. Die Natur, die ihn umgibt ist so nah, aber unsichtbar pfeifen Vögel, deren Namen er nicht kennt, bewegen sich namenlose Pflanzen im Wind. Pelli zeigt sich von seiner witzigen Seite: Einen Benziner in der Ferne kann er in dieser Situation von einem Dieselmotor unterscheiden. Pellis vielleicht eindrücklichsten Gedichte handeln von seinen Eltern. Dabei kreist Pelli oft um Sterben und Tod.

 

Durch die offene Türe
sehe ich meine Mutter eingeschlummert auf ihrer Liege,
in der Hand einen Bleistift,
auf den Knien die Decke und das angefangene
Kreuzworträtsel. Beim lauten Geräusch
des unnötig laufenden Fernsehers
scheint sie mit ihren geschlossenen Augen
schon aufgebrochen zur großen Reise. Mein Herzschlag
beschleunigt sich –
doch sie hebt ihr Haupt, schüttelt
ihr weißes Haar und schaut mich mit Wohlwollen an.
So probt sie jeden Tag
für einen lang währenden Augenblick
die Leere, die sie erwartet.

 

Auch hier konterkariert Pelli die Schwere der Themen durch pragmatische Ansätze: In zehn Jahren erreiche er, wenn er dann noch lebe, das Alter seines Vaters, als ihn die Krankheit dahingerafft hat. In zwanzig dasjenige seiner Mutter, die schon Jahre vor ihrem Tod an Herzbeschwerden litt. „Du verstehst, dass mich bei diesen Voraussetzungen jede Zeitverschwendung nervös macht.“ Wenn Pelli liest, dass jemand mit Jahrgang achtundvierzig gestorben ist, kontrolliert er, ob Onkologen oder Kardiologen eine Rolle spielten. Den letzten Reisen setzt Pelli die alltäglichen entgegen. Er reflektiert die eigene Existenz unterwegs – ein Hotelzimmer wie ein Aquarium und er darin als Fisch. Pelli träumt von fremden Bahnhöfen, verlorenen Koffern, von abgefahrenen Zügen. Ihm nicht bekannte Reisende laden ihn ein, einzusteigen – doch er ist ohne Fahrkarte, ohne Dokumente. Er muss sie suchen gehen, um dann umzukehren. Als er endlich reisefertig ist, sind die Gleise leer. Er hätte sofort einsteigen müssen. Damit endet der Traum.

Verpasste Chancen und das flüchtige Leben treiben Pelli um: „Er hieß Moammed Sceab, / er nahm sich in Paris das Leben. Ungaretti / schrieb von ihm: ‚Nur noch ich / weiß, dass er lebte‘: Für immer wird man sich / an ihn erinnern.“ Und in diesem Gedenken erinnert Pelli auch an seine Verwandten und Freunde, an die Mutter, die Fotografien ins Album klebte, geduldig und andächtig, Namen und Daten hinzuschrieb, „um das Schicksal zu überwinden, / um bei uns zu bleiben / auch nach dem Tod.“ Pelli spendet Trost mit seinen Texten. Er greift die Schicksale auf, verleiht ihnen Dauer, schaut eine Frau an: „Von einem Teil / ihres Lebens / bin ich ausgeschlossen, / andere Männer hingegen nicht. / Aber später sagt sie zu mir: Schreib / eine Zeile für mich, / eine einzige Zeile / für mich.

 

"Plötzlich Schatten" von Enzo Pelli
Buchcover-Abbildung (Limmat Verlag)

 

 

Enzo Pelli
Plötzlicher Schatten / Ombra improvvisa
Gedichte Italienisch und Deutsch
Übersetzt und mit einem Nachwort von Christoph Ferber
Limmat Verlag
176 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag
Juni 2022
SFr. 38.–, 38.– €
978-3-03926-033-1

 

 

Nicola Bardola. Foto: privat
Nicola Bardola. Foto: privat

Nicola Bardola, 1959 in Zürich geboren, veröffentlichte als Student an der Universität Bern erste Gedichte und schrieb 1984 an der Universität Zürich im Fach Germanistik seine Lizentiatsarbeit über Theorien moderner Lyrik (u. a. zu Nicolas Born, Rolf Dieter Brinkmann, Jürgen Theobaldy). Seither lebt er in München, wo er seine Kolumne »Lyrik Revue« zunächst für das Münchner BuchMagazin betreute und für die Süddeutsche Zeitung schrieb. Er veröffentlichte Gedichte in Zeitschriften und Anthologien, übersetzte Eugenio Montale ins Deutsche und war Mitbegründer der Initiative Junger Autoren (IJA). Zuletzt erschien von ihm „Elena Ferrante – Meine geniale Autorin“ im Reclam Verlag.

Alle bereits erschienenen Folgen von »Lyrik-Revue« finden Sie hier.

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