LYRIK-REVUE FOLGE 28: Nature Versing oder vom Wesen des Weltalls

Auszeichnungen, Institutionen, Konferenzen, Lesungen, Poesie im Feuilleton und Lyrik-Neuerscheinungen: Nicola Bardola kommentiert und präsentiert am 20. eines Monats Bemerkenswertes aus der Welt der Verse.

 

Nature Versing oder vom Wesen des Weltalls

Dieses Buch ist eine Auswahl oft aus schon Ausgewähltem. So lautet der Titel eines Abschnitts: „AUS New and Selected Poems: Volume Two – Neue und ausgewählte Gedichte: Band II – 2005.“ Diese Auswahl aus Auswahlen beginnt bei den aktuellsten (2015) und spricht sich voran bis zu den ältesten Texten (1963).

Über zwanzig Lyrikbände veröffentlichte die 1935 in den USA / Ohio geborene Mary Oliver. Sie stand mit ihren Gedichtbänden mehrfach auf der New York Times Bestsellerliste, gewann zahlreiche Preise, unter anderem den Pulitzer-Preis für „American Primitive“ und einen National Book Award für die oben genannten „New and Selected Poems“. Mary Oliver starb 2019 in Florida. Die vorliegende, posthum erschienene Sammlung ist ein Best-of ihrer Werke. Sie stellte es selbst zusammen. Der Band umfasst fast 450 Seiten. Darin wird vor allem die Natur geschildert – klar, scheinbar schlicht und dabei tiefgründig. In den besten Momenten verbindet sich die Dichterin mit der sie umgebenden Welt.

Nach der Lektüre von Lukrez beispielsweise geht Mary Oliver zum Teich. In ihr klingen Lukrez‘ Gedanken nach, die in seinem Werk „De rerum natura“ festgehalten sind: Es gibt nicht das Nichts. Woraus wir bestehen, wird etwas Anderes werden. Und Mary Oliver macht sich Gedanken über ihre Reaktionen beim Anblick des Fressens und Gefressenwerdens in der Natur. Auf Seite 41 ihres Buches wird geschildert, wie der Frosch, ihr „kleiner Bruder“, im Schlund des Reihers seinen Tod findet. Aber der Reiher ist zugleich ja ihr „großer dünner Bruder“, der nun seinen „Dolchschnabel“ im leuchtenden Teich wäscht. Mary Oliver löst das Drama am Teich mit zwei fabelhaften Versen: „Mein Herz kleidet sich schwarz / und tanzt“.

So befriedet Mary Oliver in „Nach der Lektüre von Lukrez gehe ich zum Teich“ ihr Erlebnis. So schnell liest sie aber nicht Lukrez‘ „De rerum natura“, also „Über die Natur der Dinge“ oder auch „Vom Wesen des Weltalls“ genannt. Das Buch hat auch über 400 Seiten. Sie liest wohl einen Ausschnitt – dann und wann – vor ihren Spaziergängen am Black River und anderswo. Vor dem Teichgang liest sie vielleicht diese Zeilen im Kapitel „Nichts wird zu Nichts“: „Die Regenergüsse verschwinden zwar, wenn sie der Vater Äther zum Mutterschoße der Erde befruchtend hinabschickt, aber emporsteigt schimmernd die Frucht, und das Laub an den Bäumen grünt, und sie wachsen empor, bald senkt sich der Ast vor den Früchten. Hiervon nähren sich wieder der Menschen und Tiere Geschlechter, hiervon sehen wir fröhlich die Kinder gedeihn in den Städten, …“ Und schließlich: „Also von dem, was man sieht, geht nichts vollständig zugrunde. Denn die Natur schafft eins aus dem andern und duldet kein Werden, wenn nicht des einen Geburt mit dem Tode des Andern verknüpft wird.“

Und natürlich liest Mary Oliver den ganzen Lukrez und bestimmt auch vor oder nach einem ihrer Teichgänge in „Atome sind empfindungslos“: „Weiter sehn wir, wie alles sich ebenso untereinander wandelt, wie Wasser und Laub und labendes Futter in Schlachtvieh sich verwandelt und wieder das Vieh in die menschlichen Leiber … Also verwandelt Natur in lebendige Körper die Nahrung allen und schafft hieraus die Empfindung allen Geschöpfen, ebenso wie sie das trockene Holz zur Flamme entwickelt und die sämtlichen Scheite in loderndes Feuer verwandelt.“ Wir können sicher sein, dass Mary Oliver auch schon vor der Lektüre von Lukrez beim Teich war. Mary Oliver wandert und wandelt durch die Natur und widmet sich ihr mit einer Beständigkeit, Herzlichkeit und Innigkeit wie keine andere Poetin, wie kein anderer Poet. Ihr gelingt mehr als das heutzutage so gängige Nature Writing. Ihr gelingt mit ihrem Nature Versing die Natur in ein Gesamtes zu stellen, mit wenigen Versen unsere Achtsamkeit im Kosmos zu steigern. „Ihr würdet nicht glauben, was ich gesehen habe …“, spricht sie uns an. Und ein Titel lautet: „Die Dichterin vergleicht die menschliche Natur mit dem Ozean, dem wir alle entstammen“.

Feld und Wald, Tier- und Pflanzenwelt, einsame Landschaften sind beschäftigt in Mary Olivers trostspendender Wahrnehmung. Sie müssen allerlei Dinge erledigen. Ein Gedicht heißt: „Wenn die Rosen sprechen, bin ich aufmerksam“. Als Autorin ist sie gefordert, all das aufmerksam anzuschauen, allem aufmerksam zuzuhören. Achtsame Notizen ohne Gefühle führten zu einem Konstatieren des Gesehenen, zu exakten Berichten, so Mary Oliver. Und sie leistet mehr. Sie bleibt achtsam mit Gefühlen, drückt diese in ihren Versen aus, was zu Hingabe führt. Sie schreibt über die Freude der Bäume beim Anblick ihrer „Äste, die wie Gedichte hinausragen“. Oder da sind Arme der Mutter Erde, die sich nie verweigern. Sie retten Mary Oliver das Leben, so sagt sie selbst und bezieht sich immer wieder auf Göttliches, schreibt Gedichte als Gebete. Und sie geht dabei weit über Flora und Fauna, über Forst und Flur hinaus. Sie beobachtet Zwischenmenschliches. Denn genau so, wie ein schlichtes Ereignis in der Nachbarschaft, so geschehe auch ein Wunder, stellt Mary Oliver fest. Die sprachlichen Register wechseln dabei manchmal sprunghaft. Sie macht „mal einfach das Beste“ aus der hochpoetisierten Sache, aber so, wie die Natur zu ihr spricht, „das scheint schon ein Gottesbeweis zu sein.“ Denn die kleinen Steine singen, auch wenn wir sie nicht hören können. Und so geschieht es zwangläufig: Es gibt Tage, an denen sich Mary Oliver wünscht, nichts zu besitzen, wie das Gras. Mit dem Otter redet sie in Körpersprache. „Als ich unter Schwarzeichen lebte, hatte ich das Gefühl, aus Blättern zu bestehen“, schreibt sie in „Lebensgeschichte“: „Ich war eine Seerose, meine Wurzeln aderzart, mein Angesicht glich einem Stern.“

 

"Sag mir, was hast du vor mit deinem wilden, kostbaren Leben - Gesammelte Gedichte" von Mary Oliver
Buchcover-Abbildung (Diogenes Verlag)

 

 

Mary Oliver
Sag mir, was hast du vor mit deinem wilden, kostbaren Leben
Gesammelte Gedichte
Aus dem amerikanischen Englisch und mit einem Nachwort von Jürgen Brôcan. Mit einem Vorwort von Doris Dörrie
Diogenes Verlag, Hardcover Leinen, 448 Seiten, erschienen am 13. Dezember 2023
978-3-257-07262-4, Preis: € (D) 28.00 / sFr 37.00* / € (A) 28.80
* unverb. Preisempfehlung

 

 

 

Nicola Bardola. Foto: privat
Nicola Bardola. Foto: privat

Nicola Bardola, 1959 in Zürich geboren, veröffentlichte als Student an der Universität Bern erste Gedichte und schrieb 1984 an der Universität Zürich im Fach Germanistik seine Lizentiatsarbeit über Theorien moderner Lyrik (u. a. zu Nicolas Born, Rolf Dieter Brinkmann, Jürgen Theobaldy). Seither lebt er in München, wo er seine Kolumne »Lyrik Revue« zunächst für das Münchner BuchMagazin betreute und für die Süddeutsche Zeitung schrieb. Er veröffentlichte Gedichte in Zeitschriften und Anthologien, übersetzte Eugenio Montale ins Deutsche und war Mitbegründer der Initiative Junger Autoren (IJA). Zuletzt erschien von ihm „Elena Ferrante – Meine geniale Autorin“ im Reclam Verlag.

Alle bereits erschienenen Folgen von »Lyrik-Revue« finden Sie hier.

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