LYRIK-REVUE FOLGE 27: Die schönsten Minuten des Tages

Auszeichnungen, Institutionen, Konferenzen, Lesungen, Poesie im Feuilleton und Lyrik-Neuerscheinungen: Nicola Bardola kommentiert und präsentiert am 20. eines Monats Bemerkenswertes aus der Welt der Verse.

 

Die schönsten Minuten des Tages

Am 13. April 463 vor Christus findet über Griechenland eine totale Sonnenfinsternis statt: Anlass genug für den Dichter Pindar einen „Paian“, einen feierlichen Gesang, einen „Nothelfer“ (so die wörtliche Übersetzung) zu texten: „Dieses Wunder, das jeden entsetzt, möge sich wandeln in leidlosen Segen für Theben“. Pindar schreibt schon als junger Lyriker Gelegenheitsgedichte und nimmt Aufträge von Freunden und Bekannten an, zu diesem oder jenem Anlass etwas zu reimen. Er ist wohl der erste Poet, der kunstvoll und mit Erfolg seine Kreativität in den Dienst Dritter stellt und sich „Gedichte zum Mitnehmen“ ausdenkt – „Poetry to go“.

Sabine Magnet bei "Poetry to go"
Fotos: Claudia Hanssen

Die orange-rote Remington Riviera Schreibmaschine ist seit 2017 das Markenzeichen der dauerhaften Aktionskunst von Sabine Magnet unter dem Slogan „Poetry to go“. Die Leihdichterin Magnet sitzt mit ihrer Remington bei verschiedensten Anlässen (Hochzeitsfeiern, Firmenevents, Kulturveranstaltungen aller Art) irgendwo gut sichtbar und muss nicht lange auf Kundschaft warten. Auch Passanten, Gäste und Interessierte in Biergärten oder auf Straßen und Plätzen nähern sich ihr. Die Menschen kommen zu Magnet und erleben dort nicht selten die schönsten Minuten des Tages. Magnet unterhält sich nämlich kurz mit den Neugierigen, erkundigt sich nach Themenwünschen und Verfasstheiten der Auftraggebenden, worauf sie Gedichte tippt, Ad-hoc-Lyrik, Stegreifgedichte, die etwas mit dem Besprochenen und mit dem Anlass und vor allem mit den gespannten Menschen vor ihr zu tun haben. Die schauen gebannt der Poetin beim Arbeiten zu und erleben live die Entstehung „ihres“ Gedichts. Ja, sie nehmen den Text in Empfang und oft ist er die kostbarste Erinnerung an jenen Tag. Ein Blatt. Ein Text. Ein Unikat. Der Kunde bezahlt, was er für angemessen hält. Manche rahmen dann das Poem zu Hause ein und hängen es an die Wand.

„Poetry“ ist Magnets Überbegriff. Die Textsorte variiert innerhalb der Gedichtform zwischen vielschichtiger Weissagung und Aperçu oder zwischen Alltagsnotiz und Humoreske. Die Vielfalt ist enorm. Magnets Talent besteht darin, spontan die Stimmung in jenem Moment der Begegnung zu erfassen. Oft fließen die persönlichen Eindrücke ihres Gegenübers in die Texte ein: Der Gesichtszug, die Körperhaltung, die zur Schau gestellte Laune oder die verborgene Stimmungslage. Das führt nicht selten zu gereimten Trost- und Mutmachversen: „Denn Freiheit will genommen werden. / Dein Mut wird Dir zum Reisepass.“ So baut Magnet ihre Auftraggeber auf. Die Buchstaben hüpfen ein wenig auf dem Papier. Hin und wieder ixst sie ein Wort aus: Die Tippfehler, das Überschriebene bleiben stehen – Zeugen der Spontaneität. Nicht selten verleihen sie den Wörtern veränderte Werte. Ein „Nichts“ wirkt als „Ncihts“ weniger bedrohlich, vorläufiger, schwebend leicht.

„Nimm einen Schluck von der wärmenden Stille, / schmieg dich ins kalte, klare Nichts. / Tief in dir drin schöpfst du aus einer Fülle …“ Magnets Füllhorn ist, was die Vermittlung betrifft u.a. Instagram. Dort blättern ihre weit über 2000 Follower in Dutzenden von Typoskripten. Hier zeigt Magnet auch ihren spielerischen Umgang mit Formen: Mal linksbündig, mal manuell zentriert, mal mit jeder zweiten Zeile bestehend nur aus einem mittigen Kernwort. Auch auf Facebook lässt Magnet ihre Leser teilhaben an ihrer vulkanischen Wort-Aktivität. Sie gibt viel Preis von ihrer Kunst in den sozialen Netzwerken und gewinnt dadurch neue Auftraggeber und behält alte Freunde. Die poetische Lebenshilfe, die Gedichte auf Bestellung gibt es von der Mietpoetin, von der „Poet for Hire“ auch auf Englisch und auch in England, wo sie mit Kollegen auftritt. Auch dort dürfen der Stein aus der Isar und die zugeflogene Feder nicht fehlen – Erdung und Leichtigkeit links und rechts auf dem Schreibtischchen neben der Remington. „Gedichte können etwas in dir freisetzen, wo du gar nicht herankommst mit deinem Verstand“, sagt Magnet und nimmt weiterhin viele Gedichtwünsche entgegen und wird weiterhin viele Gemüter berühren.

 

"Poetry to go" von Sabine Magnet
Buchcover-Abbildung (Magnet Verlag)

 

 

 

 

Sabine Magnet
Poetry to go.
Magnet Verlag, München, 2020
80 Seiten. 15 Euro.
www.poetrytogo.de
www.magnetverlag.com

 

 

 

Nicola Bardola. Foto: privat
Nicola Bardola. Foto: privat

Nicola Bardola, 1959 in Zürich geboren, veröffentlichte als Student an der Universität Bern erste Gedichte und schrieb 1984 an der Universität Zürich im Fach Germanistik seine Lizentiatsarbeit über Theorien moderner Lyrik (u. a. zu Nicolas Born, Rolf Dieter Brinkmann, Jürgen Theobaldy). Seither lebt er in München, wo er seine Kolumne »Lyrik Revue« zunächst für das Münchner BuchMagazin betreute und für die Süddeutsche Zeitung schrieb. Er veröffentlichte Gedichte in Zeitschriften und Anthologien, übersetzte Eugenio Montale ins Deutsche und war Mitbegründer der Initiative Junger Autoren (IJA). Zuletzt erschien von ihm „Elena Ferrante – Meine geniale Autorin“ im Reclam Verlag.

Alle bereits erschienenen Folgen von »Lyrik-Revue« finden Sie hier.

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