Melanie am Letzten – Folge 58: Landlust vs. Stadtfrust

Es ist ein Wahnsinn, ein Irrsinn und nicht selten ein Blödsinn: So geht es zu im Tollhaus Welt. Der Mensch neigt zu seltsamen Verhaltensweisen, die schockieren, alarmieren oder amüsieren können. Was hilft zu guter Letzt? Die Poesie. Nicht ärgern, stänkern oder meckern, sondern dichten – meint die schwarzhumorige Poetin Melanie Arzenheimer und kommentiert die Deadlines des Lebens jeweils am Monatsende auf DAS GEDICHT blog.

Alle wollen in die Stadt. Warum eigentlich?

Es liegt wohl am Kulturprogramm. Der normale Großstadtbewohner geht – so scheint es – ständig ins Theater, die Oper, das Museum, in den Literatursalon und die Universität. Deswegen wohnt er in der Stadt. Ohne Kultur und Wissenschaft kann er nicht existieren. Unterhält man sich dann aber mit einem solchen Großstadtbewohner über die Ikonographie von spätmittelalterlichen Heiligendarstellungen, das Antigone-Motiv und seine Rezeption bis in die Neuzeit oder einfach nur die heimische Fauna im Pleistozän, dann wird’s auch in der Großstadt recht einsam um einen. Ein Gespräch mit dem Kirschbaum vor der dörflichen Haustür kann da sogar anregender sein.

Schön. Es liegt am Unterhaltungsprogramm, dass die Stadt so schick ist. Bars, Kneipen, Restaurants, Biergärten, Bordelle (unterschätzen Sie mir gerade in dieser Branche das Land nicht – so eine Garage ist eine feine Sache!), Nachtclubs, Diskotheken (sagt man das noch?) laden zum Abfeiern ein. Bewusstseinserweiternde Mittel sind unter dem Tresen zu bekommen – aber auch da ist das Land inzwischen dank Internet kein grauer Fleck mehr. Und ehrlich: besaufen kann ich mich auf dem Land auch. Und das noch deutlich billiger. Wer braucht schon einen Szechuan Mule Cocktail für 15 Euro, wenn es 1-Euro-Parties gibt. Und die ungespritzte Gurke für den Drink schenkt einem der Biobauer ums Eck dazu.

Gibt es auf dem Land vielleicht einfach mehr Deppen? Wohl kaum. Wenn der Anteil an Deppen auf die Gesamtbevölkerung gemessen – sagen wir höflich geschätzt – 12 Prozent beträgt, dann sind 12 Prozent von 500 Einwohnern ja wohl deutlich weniger Deppen als 12 Prozent von 1,2 Millionen Einwohnern. Im Prinzip übersteigt die Deppenanzahl einer Großstadt ja sogar die Zahl aller Bewohner eines Dorfes, das vielleicht nicht mal auf einen ganzen Depp kommt. Wenn das nicht heftig ist! Eine neue wissenschaftliche Studie hat außerdem gezeigt, dass Stadtkinder weniger Mitgefühl für andere Kinder entwickeln, als ihre Altersgenossen auf dem Land. Gruselige Aussichten sind das. Willkommen in der Bronx.

Trotzdem wollen alle in die große Stadt ziehen. Vielleicht, weil man auf dem Land in seinem schicken SUV oder Sportwagen nicht gesehen wird. Und weil es zwischen Hopfendolden, Weizenfeldern und Karpfenteichen keinen Sinn macht, das neue Gucci-Outfit den tierischen Ureinwohnern zu präsentieren.

An den günstigen Mieten und dem gesunden Klima kann´s jedenfalls auch nicht liegen. So ist es in München im Schnitt acht Grad heißer als im Umland. Dann wollen auf einmal alle raus auf´s Land. Ich würde das Land in diesem Fall absperren. Bitte bleibt doch in eurer hippen, schicken und total überbewerteten Großstadt.

 

Grossstadt,
35 Grad

Im Bus
Fuß
Schweiß
gebadete
Sandalen
Träger
Hemdchen
hilft nur
Mini
mal

© Melanie Arzenheimer, Eichstätt

 

Melanie Arzenheimer. Foto: Volker Derlath
Melanie Arzenheimer. Foto: Volker Derlath

»Melanie am Letzten« wird Ihnen von Melanie Arzenheimer präsentiert. Sie wurde 1972 in Eichstätt / Bayern geboren, wo sie heute noch wohnt. Melanie Arzenheimer arbeitet als freiberufliche Journalistin, Autorin und Hörfunkmoderatorin.
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Alle bereits erschienenen Folgen von »Melanie am Letzten« finden Sie hier.

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