Neugelesen – Folge 10: Günter Bruno Fuchs (Hrsg.) »Die Meisengeige«

Literatur ist vergänglich, trotz ihrer Materialität. Denn allmählich entschwinden Bücher in Archivbibliotheken und verlassen unseren Erfahrungshorizont. David Westphal möchte in Nachfolge an die Kolumne »Wiedergelesen« dagegen anschreiben. Er stellt an jedem 15. des Monats Vergessenes und Neugelesenes in seiner Rubrik »Neugelesen« vor (in memoriam Erich Jooß, † 2017).

 

Was für ein Unsinn! „Eine Katze liegt in der Wiese / Die Wiese ist hundertzehn / mal neunzig Meter groß; / die Katze dagegen ist noch sehr jung.“ Ein Unsinn von Günter Grass. Ja, da möchte ich nicht widersprechen. Nicht einmal lustig, nur ein kurzes Aha, sobald der Groschen fällt und der kurze Schimmer einer Ambivalenz aus den Worten auftaucht.
Nein, Blödsinn! Eine literarische Etüde, ausgefeilt und frei vom Bedeutungszwang. Ergreifend wie ein abstraktes Gemälde und vielschichtig, trotz seiner Kürze.

Zugegeben, „Die Meisengeige“ von Günter Bruno Fuchs hat es nicht leicht. Vollgepackt mit zeitgenössischen Nonsensversen aus dem Jahr 1964, versammelt sie Sinnlosigkeit, Seite um Seite. Wer soll das lesen und warum? Witzig sind in der Tat die wenigsten. In einer Kurzkritik aus dem Spiegel von 1965 zeigt sich der Autor eher unzufrieden: „Ein neuer Morgenstern ging nicht auf“. Doch gibt die Kritik ein wichtiges Stichwort zur Annäherung, nimmt der Autor nämlich an, die Poeten und Poetinnen wollten einmal „freiwillig komisch“ sein. Komisch, das kann ein spritziger Film voller Humor sein, der einen wieder und wieder zum Lachen bringt. Komisch kann aber auch ein Essen sein – ich persönlich lache wenig, wenn das Essen komisch schmeckt oder riecht. Dann wieder gibt es diese weltfremden Gourmets, die nicht nach der perfekten Harmonie jagen, sondern nach dem Außergewöhnlichen; denen kann es gar nicht komisch genug sein!
All das will sagen: Günter Bruno Fuchs hält etwas fest, das nicht witzig sein will (aber sein darf) und in jedem Fall komisch ist. Und das mit wohlbekannten Autoren wie etwa Günter Grass, Hans Arp, Georg Walser, Paul Celan, Bazon Brock und vielen mehr. Der Lyrik-Gourmet wird auf seine Kosten kommen und staunen, der Gelegenheitsleser sich im schlimmsten Fall den Magen verderben. Das ist die Wahrheit. Es ist hier mehr denn je eine Frage der Haltung der Leserinnen und Leser. Die Einblicke, die uns dieser ganze Nonsens gewährt, sind bewegend – aber sinnlos. Was für ein merkwürdiger Widerspruch; und unter uns gesagt: Nonsensverse zu finden, ist nicht gerade leicht und meistens eher Zufall. Fuchs hat mit dieser Sammlung einen wichtigen Dienst geleistet und dabei sicher die ein oder andere Stunde geschwitzt. Wer beschäftigt sich schon gern mit Sinnlosem? Ich möchte nun meinen Teil leisten und dieses Sammelsurium aus den Bibliotheksarchiven hervorkramen.
… vielleicht ein sinnloses Unterfangen. Andererseits: Wer sich dieser Tage in Bayern die Wahlplakate durchliest, dem schadet es nicht, in Sinnlosigkeit geschult zu sein. Aber das ist ein Thema für ein andermal.

Günter Bruno Fuchs (Hrsg.) "Die Meisengeige"
© David Vestphal (Foto)

 

 

 

Günter Bruno Fuchs (Hrsg.)
Die Meisengeige. Zeitgenössische Nonsensverse
Gesammelt & herausgegeben von Günter Bruno Fuchs
Carl Hanser Verlag, 1964
Hardcover, 192 Seiten
ISBN: 978-3-943599-58-9

 

 

 

David Westphal. Foto: Volker Derlath
David Westphal. Foto: Volker Derlath

David Westphal, geboren 1989 in München, wo er auch lebt. Studium der Philosophie, Germanistik, Literatur- und Kulturtheorie zu Gießen und Tübingen. Gedichtveröffentlichungen in verschiedenen Anthologien.

Alle bereits erschienenen Folgen von »Neugelesen« finden Sie hier.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert