Neugelesen – Folge 11: C. M. Meier » Hömmelli«

Literatur ist vergänglich, trotz ihrer Materialität. Denn allmählich entschwinden Bücher in Archivbibliotheken und verlassen unseren Erfahrungshorizont. David Westphal möchte in Nachfolge an die Kolumne »Wiedergelesen« dagegen anschreiben. Er stellt an jedem 15. des Monats Vergessenes und Neugelesenes in seiner Rubrik »Neugelesen« vor (in memoriam Erich Jooß, † 2017).

 

Sind Gegensätze nicht aufregend? Bekanntermaßen ziehen sie sich schließlich sogar an wie starke Magneten. Die Werbebranche hat das längst für sich entdeckt: knackig-soft, würzig-süß, erschreckend ruhig. Unglaublich glaubhaft ist das aber nicht. So aufregend Gegensätze sein mögen, dass sie sich immer anziehen, könnte sich als Märchen entpuppen. Meist sind wir doch eher mit wahr oder falsch, Himmel oder Hölle konfrontiert. Wir sind gezwungen zu wählen, friss oder stirb. In der Geistesgeschichte aber gibt es etwas, das sich Dialektik nennt. Hinter diesem Begriff stecken viele verschiedene Konzepte: eine philosophische Tradition, eine Geisteshaltung, ein Argumentationsschema, das jeder und jede im Deutschunterricht lernt. Die einende Idee lautet, dass Gegensätze zu etwas Höherem oder Größerem führen. Die These wird durch ihre Antithese widerlegt und beide zu einer überwindenden Synthese geführt.

Einer der ältesten Gegensätze, den wir in der europäischen Kultur mit uns herumschleppen, ist jener von Himmel und Hölle. Der Gedichtband von Meier schreitet schon im Titel entschieden gegen dieses ausschließende Denken ein: Hömmelli. Die beiden Worte haben für sich so viel Ähnlichkeit, dass sie sich in Hömmelli klangvoll-ungewohnt treffen. Der kleine Gedichtband ist ein Buch der Gegensätze, nicht aber um des Kampfes gut gegen böse, sondern um der schon genannten, überwindenden Synthese willen. Nun zu glauben, Meier würde Philosophie oder Wissenschaft betreiben, ist ein Schnellschuss. Es sind Gedichte, die die Spannungen nicht auflösen, aber zusammenführen: „Die / Menge der Toten / im / Leben nimmt zu“. Die Leserinnen und Leser erhalten hier nicht einen ideologisch verfremdeten und moralistisch aufgeladenen Mittelweg im Umgang mit diesen und anderen Uneinigkeiten und Seltsamkeiten. Sie treten ein in die schillernde Vielfalt ganzer Weltkonzepte, die sich in ihrer Komposition als Gedichte übersteigen, aber nicht finalisieren. Es macht großen Spaß, sich in diese elektrifizierte Atmosphäre zu begeben und in der Dichte auf die Suche zu gehen, das Leben zwischen Fronten zu entdecken, statt in Ausschließlichkeit zu ersticken. Immerhin sind zwischen Himmel und Hölle wir. Vielleicht ist es das, was Hömmelli ist. Vielleicht spielt es aber auch keine so große Rolle, was es schlussendlich ist, denn wie der persische Dichter Rumi es hält: „Jenseits von richtig und falsch liegt ein Ort. Dort können wir uns begegnen.“

 

"Hömmelli" von C. M. Meier

 

 

 

 

Hömmelli
C. M. Meier
Aleph Verlag, 2003
Softcover, 71 Seiten
ISBN: 3-936934-01-0

 

 

David Westphal. Foto: Volker Derlath
David Westphal. Foto: Volker Derlath

David Westphal, geboren 1989 in München, wo er auch lebt. Studium der Philosophie, Germanistik, Literatur- und Kulturtheorie zu Gießen und Tübingen. Gedichtveröffentlichungen in verschiedenen Anthologien.

Alle bereits erschienenen Folgen von »Neugelesen« finden Sie hier.

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