Neugelesen – Folge 2: Günter Grass: »Novemberland«

Literatur ist vergänglich, trotz ihrer Materialität. Denn allmählich entschwinden Bücher in Archivbibliotheken und verlassen unseren Erfahrungshorizont. David Westphal möchte in Nachfolge an die Kolumne »Wiedergelesen« dagegen anschreiben. Er stellt an jedem 15. des Monats Vergessenes und Neugelesenes in seiner Rubrik »Neugelesen« vor (in memoriam Erich Jooß, † 2017).

 

Ich habe noch nie Grass gelesen.
Entweder ich begehe just einen Offenbarungseid oder aber ich spreche für viele Menschen wenigs-tens meiner Generation. Zugegeben, der ganzen Wahrheit entspricht es wieder auch nicht: Blech-trommel, Krebsgang und einige kleinere Prosastücke. Aber kein einziges (!) Gedicht. Vor kurzem ist mir ein dünnes Bändchen von Günter Grass in die Hände gefallen: »Novemberland. 13 Sonette« (Steidl: Göttingen 1993). Erinnerlich wurden mir, gleich nachdem ich den Untertitel gelesen hatte, Marcel Reich-Ranickis Tiraden. Obwohl er nach seinem Verriss zur Blechtrommel – nachdem Grass dafür den Literatur-Nobelpreis erhalten hatte – in spektakulärer Weise zurückruderte, ist er nie so recht mit seinem Stil warm geworden. Und das ist wohlwollend formuliert, vergleicht man seine Kritik an »Ein weites Feld«. Umso überraschender seine selbst beteuerte Liebe zu Grassens Sonet-ten; es muss eine raue Liebe gewesen sein. Nichtsdestoweniger ein erfreulicher Zufall für mich, denn scheinbar habe ich mit »Novemberland« ein Filetstück auf dem Tisch. Wie es schmeckt?

Was soll ich groß um den heißen Brei reden: »Ein Sonett zu machen ist eine einfache Sache.« Das wusste Jakob Stephan, wie auch Robert Gernhardt. Von Erstem stammt das Zitat, von Letztem das Sonettenschmähgedicht »Materialien zu einer Kritik der bekanntesten Gedichtform italienischen Ursprungs« in Sonettform. Es gibt gute Gründe, feste Formen als Korsette zu verachten. Das ist zudem ungemein einfach und à la mode. Was meines Erachtens aber leicht übersehen wird – und ich verstehe nicht, wie das geschieht! –, ist, welchen Reiz Korsette eigentlich haben. Fein, wenn man keine Korsette mag, hilft alles nichts. Aber eigentlich kann nur jemand Korsette richtig einschätzen, wenn er sie zu begreifen sucht. Das ist der Clou an Gernhardts Gedicht: ein einwandfreies Sonett gegen Sonette. Er hat‘s begriffen – und findet‘s dennoch »beschissen«.

Grass hätte (und hat) nie etwas Vergleichbares formuliert, möchte ich behaupten. Nachdem ich nun doch um den heißen Brei geredet habe, zurück zum Filetstück: Die 13 Sonette von Günter Grass sind von Anfang bis Ende raffiniert komponiert, klagend, teilweise sogar poetisch argumenta-tiv und häufig genug mit Wortwitz. Nicht, dass irgendetwas in den Sonetten witzig wäre. Eher im Sinne von gewitzt. Und siehe da: ihre Attraktivität wird durch die regelmäßige, durch den ganzen Band durchgehaltene Form nur gestärkt. Sicherlich stelzt die ein oder andere Satzumstellung zu-gunsten der Form etwas daher, es ist bei weitem nicht alles glattgebügelt, doch stört das tatsächlich oder ist es nicht eine Chance, Sätze anders zu denken und Schwerpunkte zu verschieben? Dann sind da aber zusätzliche Geschmacksnuancen, die mir nur schwerlich genüsslich werden, dazu gleich mehr.

Der Schwerpunkt des Bandes ist das Novemberland. Jene Metapher ist kein großes Rätsel, aber in ihrer Eindeutigkeit äußerst vielschichtig. Jenes Novemberland existiert nach dem goldenen Oktober, nach der letzten Frucht, die Tage werden spürbar unangenehmer. »Breit liegt das Land«, »Geschie-den sind wie Mann und Frau / nach kurzer Ehe Land und Leute.« In den gerade einmal 13 Gedich-ten entfalten sich einige Schlagworte, die Land und Leute scheiden und sie erinnern stark an die BRD der frühen Neunziger. Die Parallelen zwischen Novemberland und Deutschland sind offenbar, man sollte sie aber nicht zu vorschnell miteinander identifizieren. Die Gedichte tun dies nicht und es nähme ihnen ihre Zeitlosigkeit, ihre Autonomie, die sie – nicht uneingeschränkt – besitzen. Es ist aber auch meinerseits wohlwollend, denn würde ich das Deutschland der Neunziger für das No-vemberland nehmen, dann wäre manche Klage allzu laut und manchmal missverständlich, nicht we-niger passt Novemberland trotzdem auf vielen heutigen Debatten in z.B. Europa und den USA.

Zwei Beispiele. Die Nummer 11: »Nach kurzer Krankheit«. Anhand einer leichten Grippe erklärt das Gedicht uns, wie wir, kaum »ausgeschwitzt«, locker dabei zusehen, »warum der Mensch sich bei Gelegenheit vertiert.« Selten habe ich eine derartige Scharfzüngigkeit das beleckte Thema seine Würde behalten sehen, wie in Nummer 11. Ich bin davon überzeugt, dass es auch an der Gedicht-form italienischen Ursprungs liegt. Nummer 5, das kurz fasst, was es eigentlich bedeutet, Asylsu-chende zu hassen, ist wichtiger und richtiger Zunder – damals wie heute.

Grass ist, davon bin ich nun auch überzeugt, ein herausragender Sonettist. Zweifelsfrei wollen die Sonette Deutschland nach dem deutschen Herbst kommentieren, aber doch ist es mehr als das. Da-rin liegt ihr Wert. Die Gefahr der Sonette sei aber auch direkt ausgesprochen: Ich sagte es bereits, einiges ist zu laut anklagend, die bekannte Form lässt den Leser sehr leicht in die Tonlage finden und fördert unkritisches nachlaufen. Der Band wird komplettiert von 13 palimpsestartigen Sepia-zeichnungen des Autors, die sehr stimmig in das Gesamtkonzept passen. Noch immer rennt mein Kopf, beflügelt von den Möglichkeiten, die mir die Gedichte geben, obwohl ihr Anlass scheinbar so konkret ist. Was bleibt? »Wer kommt?« »demnächst droht Weihnacht dem Novemberland.«
 

Günter Grass: NovemberlandGünter Grass
Novemberland

Steidl Verlag, Göttingen 2001
Softcover, 32 Seiten
ISBN 978-3-88243-257-2

 

David Westphal. Foto: Volker Derlath
David Westphal. Foto: Volker Derlath

David Westphal, geboren 1989 in München, wo er auch lebt. Studium der Philosophie, Germanistik, Literatur- und Kulturtheorie zu Gießen und Tübingen. Gedichtveröffentlichungen in verschiedenen Anthologien.

Alle bereits erschienenen Folgen von »Neugelesen« finden Sie hier.

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