Literatur ist vergänglich, trotz ihrer Materialität. Denn allmählich entschwinden Bücher in Archivbibliotheken und verlassen unseren Erfahrungshorizont. David Westphal möchte in Nachfolge an die Kolumne »Wiedergelesen« dagegen anschreiben. Er stellt an jedem 15. des Monats Vergessenes und Neugelesenes in seiner Rubrik »Neugelesen« vor (in memoriam Erich Jooß, † 2017).
Wie schreibt man in unserer Zeit als weißer mitteleuropäischer Cis-Mann, für den ich gehalten werden könnte, über Lyrik einer seit langer Zeit geächteten und gebeutelten Minderheit? Diese Frage stelle ich mir nicht aus Frust oder Überforderung, wie sie sich in verstümmelten Freiheitsdebatten niederschlagen: Das wird man doch noch sagen dürfen! Oder: Bald darf man gar nichts mehr sagen! Es ist eine Frage, der sich etablierte Literaturkritik und -wissenschaft selten stellt. Zwar gibt es Bemühungen, Literatur aus allen Teilen der Weltbevölkerung in die Diskussion zu bringen, was schon einmal ein wichtiger Schritt ist. Dennoch wird die Problemstellung umgangen, dass über die Kunst der Minderheit Teile jener Bevölkerungsgruppe urteilen, die für das Leid selbiger mitverantwortlich ist. In gewisser Weise vertieft es die bestehenden Machtgefälle. Andererseits verschärft es Ausgrenzung, wenn die Kultur der Minderheit stets das Andere bleibt, das man zwar in höflicher Distanz bewundern, aber nicht antasten darf, ohne sich womöglich schuldig zu machen. Es gilt also nach Alternativen zwischen Übertölpeln und Meiden zu suchen.
Nun habe ich das Buch der Ränder zu Roma-Lyrik schon einige Zeit im Regal stehen und habe mich in ruhigen Minuten gefragt, was mich eigentlich in diesem Buch aus dem Wieser Verlag erwartet. In der noch immer gängigen Fremdbezeichnung Zigeuner, die zurecht in der Kritik steht, verbirgt sich ziemlich viel Widerspruch. Fahrende Völker Osteuropas, Zigeunermusik, zügellose Feste, Landstreicherromantik und Mystik auf der einen Seite; auf der anderen Diebesbanden, Obdachlosigkeit, Vertreibung, unzivilisierte Bettelei. Ein Begriff voller Klischees, der nicht nur in der Populärkultur des letzten Jahrhunderts ausgeschlachtet wurde und Ressentiments aufrechterhält. Sich einer möglichen Roma-Identität authentisch zu nähern und insbesondere die Menschen aus Schubladen zu holen: dabei hilft es, ihre Literatur in die Hand zu nehmen.
Um mit einem Schlagwort in Das Buch der Ränder einzutauchen: tief melancholisch. Die Gedichte handeln von Verlusten, verlorenen Lieben, uneigentlicher Heimat. Es ist kein subtiles Moll, aber perfekt gespielt. Es gibt diese Schönheit in der Traurigkeit, die überall in diesem dreisprachigen Band zu finden ist. Die ÜbersetzerInnen und HerausgeberInnen haben die Gedichte ins Deutsche und je eine Ungarische oder Romanes-Fassung ergänzt. Teils sind die Gedichte erzählerisch, teils stimmungsvermittelnd, aber meist bilderreich, selten karg. Darin liegt ihr Hoffnungsschimmer, sie bewahren sich einen würdevollen Glanz. In aller Freiheit breiten sie sich aus und folgen keiner festen Form. Vom Klischee der Zigeuner bleibt in der Roma-Lyrik nichts übrig – natürlich nicht. Es handelt sich um Menschen, die nicht in einem Hollywoodfilm leben, sondern in der oft harten Realität. Die Gedichte dürfen nicht als Lyrik über Roma gelesen werden und als das, was sie sind, sind sie eine Bereicherung. Die Übersetzung aber erscheint mir an ein paar Stellen etwas klassizistisch und wenig zeitgenössisch.
Was diesen schön ausgestatteten Band komplettieren würde, wären Aufnahmen im Originalton, was letztlich immer eine Kostenfrage ist. Die Herausgeber haben sich offenbar dagegen entschieden, die Gedichte mit einem Vor- oder Nachwort in irgendwelche Kontexte zu setzen. Das finde ich einerseits schade, denn ich wäre neugierig darauf, andererseits ist es gerade bei diesem Band besonders spannend. Die Gedichte dürfen für sich stehen und kommen nicht in das Narrativ der leidvollen Geschichte der Roma. Es ist definitiv ein Band, der ernst genommen werden muss und auch ich werde noch einige Male in ihn hineinblicken.
Das Buch der Ränder ist eine ganze Reihe aus dem Wieser Verlag mit Literatur, die keine Lobby hatte oder hat. Wenn sie alle so lesenswert sind wie Roma-Lyrik, dann freue ich mich darauf, weitere davon in die Hände zu bekommen. Nun ist auch diese Besprechung vermutlich nicht besonders wegweisend für die Zukunft der Literaturkritik und -wissenschaft. Doch den Weg des Meidens wollte ich nicht einschlagen. Ein Versuch also, und eine Lesereise.
Andrea Gyurkó; József Kovács Hontalon (Hrsg.)
Das Buch der Ränder. Roma-Lyrik aus Ungarn
Wieser Verlag, Klagenfurt 1999
Hardcover, 165 Seiten
ISBN 3-85129-204-9
David Westphal, geboren 1989 in München, wo er auch lebt. Studium der Philosophie, Germanistik, Literatur- und Kulturtheorie zu Gießen und Tübingen. Gedichtveröffentlichungen in verschiedenen Anthologien.
Alle bereits erschienenen Folgen von »Neugelesen« finden Sie hier.