Neugelesen – Folge 30: Stevan Tontić »Handschrift aus Sarajevo«

Literatur ist vergänglich, trotz ihrer Materialität. Denn allmählich entschwinden Bücher in Archivbibliotheken und verlassen unseren Erfahrungshorizont. David Westphal möchte in Nachfolge an die Kolumne »Wiedergelesen« dagegen anschreiben. Er stellt an jedem 15. des Monats Vergessenes und Neugelesenes in seiner Rubrik »Neugelesen« vor (in memoriam Erich Jooß, † 2017).

 

Der vielfach zitierte Satz Adornos, es sei nach Auschwitz barbarisch, ein Gedicht zu schreiben, ist ebenso häufig bemüht wie interpretiert worden. Dieses als allgemeines Verdikt auftretende Zitat wurde 1949 verfasst: Holocaust und Weltkrieg hatten gerade unzählige Menschen traumatisiert. Zwei Worte, die sich selbst nicht begreifen können. Dieser Schrecken hat keine Worte. Alles muss nach diesen Erfahrungen ausgehöhlt gewirkt haben und die Kultur als mögliches Gegengewicht hatte versagt. Adorno wird gewusst haben, dass weiter geschrieben wird. Nur: Wie weiter machen? Nicht so wie zuvor.

Gedichte gibt es noch immer. Wie auch Kriege, die die Menschen an ihre äußersten Grenzen und darüber hinaus treiben, falls sie es überhaupt überleben, nur, um dann ewig von der Schuld der Überlebenden heimgesucht zu werden. Niemand gewinnt einen Krieg.

Während die Stadt Sarajevo in den Neunzigerjahren belagert wurde, schrieb Stevan Tontić aus ihrem Herzen die Gedichte der Sammlung Handschrift aus Sarajevo, erschienen im Ralf Liebe Verlag im Jahre 1998. Sie handeln vom Krieg, von Krise, Tod, Hunger, Zerstörung, Hilflosigkeit, Fassungslosigkeit. Wie die Worte Holocaust und Weltkrieg sind sie für sich kaum zu fassen. Tontić aber mimt in seinen Gedichten nicht den großen Versteher oder Aufklärer, auch keinen Widerständler. Sie sind voller Emotionalität. Nur selten entgleitet ihnen ein Pathos, der aber wenig von Übertreibung und viel von Lebensbejahung spricht. Sehr dicht, häufig erschütternd, da sie so zielgenau ins Schwarze treffen.

Manchmal erstickt einen die Schwärze fast. Einige Bilder sind sehr wirkmächtig, sie suchen aber das Alltägliche auf. Allein: Was ist denn eigentlich alltäglich in einer belagerten Stadt? Vermutlich auch der Anruf der Götter. Alles ist anders, und das ist normal; Ratlosigkeit bleibt.

Diese und andere Grenzerfahrungen kommen in Tontićs Handschrift in sehr klarer Sprache zu Wort. Selten gleiten sie ins allzu Abstrakte. So gut wie jedes könnte als monolithisches Mahnmal dienlich sein.

Den Gedichten sind dann einige Illustrationen von Reinhard Kleist beigegeben, die lose Bezug auf die nebenstehende Lyrik nehmen. Sie sind selbst Formen von Gedichten: Sie verdichten bildlich mit kleinsten Kulissen, sehr wenigen Gesten und Akteuren die starke Emotionalität, die aus Tontićs Lyrik spricht. Mit Adornos Satz im Hinterkopf könnte man annehmen: Tontić hat antibarbarische Worte gefunden. Ich möchte sie nicht verhallen lassen.

Nun ist in der Kunst die letzten Jahrzehnte sehr viel mit der Vergänglichkeit der Materialität als Ausdruck experimentiert worden, was der allgemeinen Thematik des Bandes überraschende, ästhetische Wendungen verleihen würde. Der zum ersten Mal aufgeschlagener Band, der eigentlich eine würdige Aufmachung aufweist, ist aber nicht gar so kunstvoll ausgeführt. Eher ein Montagsdruck. Schade, Tontić hätte mehr Sorgfalt verdient.

 

"Handschrift aus Sarajevo. Gedichte" von Stevan Tontić
Buchcover-Abbildung (Verlag Ralf Liebe)

 

 

 

 

 

 

Stevan Tontić
Handschrift aus Sarajevo. Gedichte
Verlag Ralf Liebe, Edition Landpresse 1998
Englisch Borschur, 95 Seiten
ISBN: 3-930137-65-8

 

 

 

 

 

David Westphal. Foto: Volker Derlath
David Westphal. Foto: Volker Derlath

David Westphal, geboren 1989 in München, wo er auch lebt. Studium der Philosophie, Germanistik, Literatur- und Kulturtheorie zu Gießen und Tübingen. Gedichtveröffentlichungen in verschiedenen Anthologien.

Alle bereits erschienenen Folgen von »Neugelesen« finden Sie hier.

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