Literatur ist vergänglich, trotz ihrer Materialität. Denn allmählich entschwinden Bücher in Archivbibliotheken und verlassen unseren Erfahrungshorizont. David Westphal möchte in Nachfolge an die Kolumne »Wiedergelesen« dagegen anschreiben. Er stellt an jedem 15. des Monats Vergessenes und Neugelesenes in seiner Rubrik »Neugelesen« vor (in memoriam Erich Jooß, † 2017).
Üblicherweise suche ich mir für diese Kolumne Neugelesen Gedichtbände heraus, deren Veröffentlichung etwas zurückliegt, mit dem Ziel, sie wieder in das heutige Bewusstsein zu katapultieren und zu aktualisieren. Bände, die derzeit etwas weniger Aufmerksamkeit bekommen, aus ganz unterschiedlichen Gründen. Manche sind selten, manche nach heutigen Maßstäben etwas sperrig, manche auch einfach nur alt oder – gar nicht einmal so selten – die Autoren und Autorinnen hatten einfach Pech mit ihren Nachlassverwaltern. Hier lassen sich alle bereits erschienen Folgen von Neugelesen finden. Hin und wieder gelangen aber auch frisch gedruckte Bücher in meine Hände, die gleichsam neugelesen werden wollen. Diesmal handelt es sich um den von Richard Dove verfassten Band Unterwegs nach San Borondón, vor kurzem im Rimbaud Verlag erschienen.
Waren Sie schon einmal auf San Borondón? Vielleicht kennen Sie das Eiland auch unter dem Namen Sankt Brendan Insel. Ich vermute einmal, bitte widersprechen Sie gerne, dass noch niemand von Ihnen diese Insel je gesehen hat. In der Tat handelt es sich dabei um eine Phantominsel, von der zwar lange angenommen wurde, sie läge westlich von Nordafrika, die es aber nie gegeben hat. Es gibt viele alte Karten, die sie sogar verzeichnet haben. Die Entstehungsgeschichte des Mythos ist für sich ein Abenteuer. Sie ist im legendären Reisebericht des Abtes Sankt Brendan festgehalten, der im neunten Jahrhundert entstanden sein muss. Das Buch lädt seine Leserschaft auf eine Seefahrt zu einem mystischen Ort ein. Darüber allein lässt sich lange nachdenken.
Aber vielleicht weckt es auch etwas Furcht. Furcht vor einer beschwerlichen Reise. Furcht vor schwer verständlichen Gedichten möglicherweise auch. Wovor man sich fürchtet und was in einem die Abenteuerlust weckt ist indes sehr subjektiv. Viele der Gedichte haben eine Art archäologischen Charakter, gewissermaßen beginnt man eine Forschungsreise. Denn die Referenzen, welche die Gedichte zum Ausdruck bringen, sind sehr vielfältig und jene Gedichte, die keine Bezüge aus der breiten Literatur- und Kulturgeschichte aufsuchen, dürften in der Unterzahl sein. Sie sind sowohl formal, als auch inhaltlich und personal. Anders gesagt: Man begegnet vielen interessanten Menschen, während man nach San Borondón unterwegs ist. Und zwar im Heute. Das ist ein bedeutsamer Faden dieser Lyrik: Sie gräbt zwar in unserer Kulturgeschichte, aber ihre Fragen betreffen unsere Zeit. Das hilft, über die eine oder andere Referenz hinweg zu lesen, die man selbst nicht zuordnen kann. Manchmal aber, da ist es zu viel. Da gleiten die vielschichtigen Zitierungen in einen Selbstzweck ab; sie drohen es zumindest an. Plötzlich zeigen sich Verse, die ganz und gar nicht mehr zeitgemäß in ihrer Sprache wirken. Ist man ein klein wenig zugestehend, dann entwickelt sich daraus aber durchaus eine positive Spannung.
Ich denke, auch wenn die Gedichte von Dove keine große Akrobatik sind und nicht zum Ziel haben, Leserinnen und Leser maximal ins Ungewisse zu stürzen, muss man schon Interesse haben, sich mit den historischen Themen und Zitaten zu beschäftigen. Das Buch nimmt einen eben nicht in ein All-inclusive-Luxusresort mit, in dem einem alles nachgetragen wird. Dadurch, dass aber unsere Gegenwart – dazu gehört auch Covid und die Flüchtlingskatastrophe zum Beispiel – ihr eigentlicher Gegenstand ist, ist es nicht zwingend notwendig, jedes Detail entschlüsseln zu müssen. Wenn man an einem fremden Ort ist, muss man ja nicht immer alles verstandesgemäß verstehen und darf auch einfach mal genau beobachten und staunen. Und manchmal ist dieser Ort eben die eigene Geschichte. Die Zielsetzung des Autors Richard Dove mit seinem Gedichtband Unterwegs nach San Borondón und meine mit der Kolumne Neugelesen könnten unterdessen sehr ähnlich sein.
Richard Dove
Unterwegs nach San Borondón
Rimbaud Verlag Aachen, 2020
Englisch Broschur, 88 Seiten
ISBN: 978-3-89086-223-1
David Westphal, geboren 1989 in München, wo er auch lebt. Studium der Philosophie, Germanistik, Literatur- und Kulturtheorie zu Gießen und Tübingen. Gedichtveröffentlichungen in verschiedenen Anthologien.
Alle bereits erschienenen Folgen von »Neugelesen« finden Sie hier.