Neugelesen – Folge 5: Elfriede Jelinek: »ende. gedichte von 1966 – 1968«

Literatur ist vergänglich, trotz ihrer Materialität. Denn allmählich entschwinden Bücher in Archivbibliotheken und verlassen unseren Erfahrungshorizont. David Westphal möchte in Nachfolge an die Kolumne »Wiedergelesen« dagegen anschreiben. Er stellt an jedem 15. des Monats Vergessenes und Neugelesenes in seiner Rubrik »Neugelesen« vor (in memoriam Erich Jooß, † 2017).

 

Auf der öffentlichen Lesung zu Religion im Gedicht in Berlin, Anfang Mai, hatte ich das Vergnügen, die junge Lyrikerin Swantje Opitz kennen zu lernen. Einige ihrer Gedichte waren mir wohl bekannt, denn je eines ihrer Gedichte fand Einzug in die Anthologien »Komm in meinen Maulwurfshügel« und »Wage im Regen ein Tänzchen«, die ich in der vom Lektorat DAS GEDICHT betreuten Reihe POESIE 21 herausgeben durfte. In Erinnerung waren mir ihre Gedichte insbesondere wegen der subtilen, aber klaffenden Abgründe – und Abgründe, die in Poesie eingewebt sind, tun sich nicht immer leicht dabei, ein Publikum zu finden. Somit war ich motiviert, für meine nächste Folge einigen lyrischen Abgründen nachzuspüren.

Eine nicht mehr ganz so junge Autorin, die sehr wohl ihr Publikum gefunden hat, darf gerne eine Meisterin des menschlich Abgründigen genannt werden: Elfriede Jelinek. Nicht nur ihre Romane wie »Lust« (1989), »Gier« (2000) und »Neid« (2007/08), auch ihre Theaterstücke wie etwa »Wut«, »Schatten« (Eurydike sagt) oder »Winterreise« sind eine Landkarte – und auch Schatzkarte – der Kehrseiten menschlicher Existenz. Die Lyrik der österreichischen Litera-turnobelpreisträgerin war mir hingegen bislang wenig vertraut und ist auch scheinbar deutlich weniger verbreitet als ihre Prosa. Die einzigen beiden mir bekannten Gedichtbände Jelineks sind Linas »Schatten« (1967) und »ende« (1966-1968; erstmals erschienen 1980). Über Letzte-ren aus der Lyrikedition 2000 – zur Entstehungszeit war Elfriede Jelinek selbst noch eine jun-ge Lyrikerin – soll es nun gehen.

Jelinek sagt über ihre Arbeitsweise, sie sei eine Mischung aus musikalischer Komposition und Schreiben. Nun kann man sich darüber streiten, ob und wie das in ihrem Werk verwirklicht ist. Für ihre Lyrik trifft es aber vollumfänglich zu! Es ist nur weniger die vergnügliche Lyra, die ihre Musikalität der Sprache leiht. In einzelnen Gedichten scheint eine nicht immer einfache Mehrstimmigkeit mit gezielten Kontrapunkten auf: »ich bin so riesig / wie ein schwarzes kind mit einem kreisel. / […] / ich bin so hoch / wie aufeinandergestellte blicke«. In diesem mit dem Titel verachtung versehenen Versen erfahren wir kaum etwas über die Physis des lyrischen Ichs, die man bei »so riesig wie« oder »so hoch wie« erwarten würde. Was aber spürbar wird, ist eine ungeheure Verachtung. Nur: wem gegenüber? In der Polyphonie können wir dies nicht verorten, es ist aggressiv und autoaggressiv, doch klar ist am Ende ihr Unglück, trotz mancher sogar ermunternder Verse: »irgendwo liegt ein lächeln von mir / am boden«. Selbsterhebung und Selbstvernichtung. In diesem Gedicht gehen sie keine Antinomie ein, sondern sind exis-tenzielle Seite und ihre Kehrseite. Der Abgrund ist das Negativ der sich um ihn erhebenden Klippen. Dazu der musikalische Charakter, der nie fröhlich oder eingängig ist. Jelineks Ge-dichte sind keine Ambientmusic, sie sind näher verwandt mit stark dissonanten Kompositio-nen.

Manchmal vulgär, manchmal jugendlich-trotzig; hin und wieder obszön, häufig auch recht kühl. Aber eines nie: leicht und erbaulich. Selbst Naturbilder sind dem Dunkel gewidmet: »zerschämt spuckt ein acker / mit den schwarzen früchten.. / alle madonnenbilder / weichen«. Warum sollte man sich die Lektüre von Jelineks Gedichten »antun«? Eine nicht ganz einfache Frage. Langeweile kommt bestimmt nicht auf, aber ästhetische Lust? Gerade wenn man sich fragt, was daran eigentlich Lust bereitet, wäre es an der Zeit, den eigenen Horizont zu erwei-tern. Man muss auch Dinge lesen, die einen zwicken und zwacken, manchmal bis an die Schmerzgrenze! Das ist vermutlich mein eigenes, jugendliches Lyrikherz, das da drängt. Doch was hält viele Leserinnen und Leser tatsächlich davon ab? Vielleicht einfach nur die Angst vor den eigenen Abgründen.
 

Elfriede Jelinek
ende. gedichte von 1966 – 1968

Lyrikedition 2000, München 2000
Softcover, 72 Seiten
ISBN 978-3-935284-29-5

 

David Westphal. Foto: Volker Derlath
David Westphal. Foto: Volker Derlath

David Westphal, geboren 1989 in München, wo er auch lebt. Studium der Philosophie, Germanistik, Literatur- und Kulturtheorie zu Gießen und Tübingen. Gedichtveröffentlichungen in verschiedenen Anthologien.

Alle bereits erschienenen Folgen von »Neugelesen« finden Sie hier.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert