Literatur ist vergänglich, trotz ihrer Materialität. Denn allmählich entschwinden Bücher in Archivbibliotheken und verlassen unseren Erfahrungshorizont. David Westphal möchte in Nachfolge an die Kolumne »Wiedergelesen« dagegen anschreiben. Er stellt an jedem 15. des Monats Vergessenes und Neugelesenes in seiner Rubrik »Neugelesen« vor (in memoriam Erich Jooß, † 2017).
Günter Bruno Fuchs: Abenteuerliche Geschichten ohne Abenteuer
Erst kürzlich sagte ein Moderator beim WDR 3, dass Lyrik ein großartiges Biotop wäre, um die großen Fragen des Lebens zu verdichten. Manchmal ginge es aber auch um den Alltagswahnsinn. Damit führte der Moderator zum Gedicht Wieder Hallo, das Kind schreit von Anton G. Leitner. Das hat mich dazu veranlasst, in meinen Günter Bruno Fuchs zu schauen. Er war ein Meister der Alltagstöne, dafür war er bekannt. Was nicht heißt, dass der Fuchs nicht schlau ist! Die großen Fragen verstecken sich bei ihm im Alltag. Sein Band Abenteuerliche Geschichten ohne Abenteuer ist in den 70er-Jahren entstanden. Der Alltag, könnte man sagen, war aber noch gar nicht etabliert. Nach der großen Zäsur des Dritten Reiches und während des Wirtschaftswunders muss vieles neu verhandelt werden. Diese Verhandlungen lesen sich bei Fuchs so humorvoll wie skurril – und ja, heute auch zum Teil dokumentarisch. Lässt sich etwa die aufkommende, deutsche Liebe zum Auto ablesen, oder auch der Wandel der Arbeitswelt. Seine Sprache ist dabei – ich würde sagen – kneipenpoetisch: ohne große Verrenkungen, aber klanglich so ausgefeilt, vielleicht, weil er auch als Hörspielmacher gearbeitet hat. Der Band versammelt dabei nicht nur Lyrik, sondern auch Kurzprosa, Dialoge bzw. Kurzdramen und literarische Versuche.
Im Untertitel nennt sich der Band ein Handbuch für Einwohner. Es ist in der Tat Taschenbuchformat, für das Günter Bruno Fuchs selbst die Typografie und Illustration bewerkstelligt hat. Und wenn man Handbuch als Lektüre zum besseren Verständnis der damaligen Gesellschaft versteht, trifft der Untertitel sehr gut. Es spricht aber auch heute noch zu uns. Für meine Eltern- und Großelterngeneration war das eine wichtige und prägende Zeit, die damit auch mich vorbestimmt hat. Viele der Verhaltensweisen, die bei Fuchs so humorvoll um die Ecke kommen, kenne ich noch aus eigener Erfahrung.
Aber ist alles nur zum Lachen? Nein. Bei Fuchs stehen Lachen und Skandal ganz nah beieinander. Man muss trotzdem genau hinschauen, das ist seine Kunst. Beobachtung trifft hier auf utopisches Denken (das meinte damals auch der hessische Rundfunk in der Sendung Sprache und Literatur). Ich nehme ihn häufig zur Hand und frage mich, wie er die heutige Gesellschaft poetisch kommentieren würde. Vielleicht lasse ich mal eine künstliche Intelligenz in seinem Namen über das 21. Jahrhundert schreiben.
Fuchs, Günter Bruno
Abenteuerliche Geschichten ohne Abenteuer. Handbuch für Einwohner No 1 und No 2.
Wilhelm Heyne Verlag München 1981
208 Seiten, Softcover
ISBN: 3-453-35806-6
David Westphal, geboren 1989 in München, wo er auch lebt. Studium der Philosophie, Germanistik, Literatur- und Kulturtheorie zu Gießen und Tübingen. Gedichtveröffentlichungen in verschiedenen Anthologien.
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