Literatur ist vergänglich, trotz ihrer Materialität. Denn allmählich entschwinden Bücher in Archivbibliotheken und verlassen unseren Erfahrungshorizont. David Westphal möchte in Nachfolge an die Kolumne »Wiedergelesen« dagegen anschreiben. Er stellt an jedem 15. des Monats Vergessenes und Neugelesenes in seiner Rubrik »Neugelesen« vor (in memoriam Erich Jooß, † 2017).
»Mein lieber Kurt,
Ich erinnere mich nur noch an das Deutsch meiner Kindheit. Leider kenne ich Eure Dichter nicht. Gebildet wurde ich vom ›Erlkönig‹ und ›Struwelpeter‹. Entschuldigen Sie also, daß ich ihnen diese naiven Gedichte schenke. Die einzige Entschuldigung für ihr Dasein ist, daß sie Ihnen gefallen haben.«
So beginnt ein Brief Cocteaus an Kurt Weill, den Komponisten von Berthold Brechts Dreigroschenoper. Obwohl Jean Cocteau nicht für seine deutschsprachige Dichtung bekannt ist, die – zugegeben – auch nur einen sehr kleinen Teil seines Lebenswerkes ausmacht, war er sehr eng mit der deutschen Dichtung verbunden und mit der Schriftstellerszene seiner Zeit vernetzt. Es ist Bescheidenheit, die ihn dazu verleitet, seine Kenntnisse auf den Erlkönig und den Struwelpeter zu reduzieren, wenngleich sie tatsächlich maßgebend für seinen Zugang waren. Wie der sehr erhellende Essay Franz Joseph Hells In der Liebe leben in dem schmalen Band eröffnet, hat Cocteau bis an sein Lebensende immer und immer wieder in Gesellschaft den Erlkönig rezitiert. Außerdem hielt er engen Kontakt zu Rilke, Celan, den Manns und anderen.
Erstmals erschienen die Gedichte in der von Klaus Mann gegründeten Exilzeitschrift Die Sammlung im deutsch-niederländischen Verlag Querido im Jahre 1934. 1992 dann entschloss sich der Pendragon Verlag zu Bielefeld, diesen sechs kurzen Gedichten ein eigenes Denkmal zu setzen und sie in Verbindung mit Zeichnungen von Cocteau selbst zu bringen. Was aber könnte nun in diesem Zusammenhang »naiv« bedeuten? Cocteaus Werk war seinerzeit ständiger Kritik ausgesetzt, gleichzeitig dadurch wohlbekannt. Er war Schriftsteller mit Leib und Leben, er war gebildet, gut situiert sowie gefragt und geschmäht zugleich. Seine Person kann man nur schwerlich als naiv bezeichnen, ebenso wie sein Werk. Naiv sind seine Gedichte in der Hinsicht, dass sie entstanden, ohne sich um den zeitgenössischen Literaturdiskurs Deutschlands zu kümmern. Keine Avantgarde, kein Expressionismus, kein Modernismus, kein Ästhetizismus oder Symbolismus: Liebe, in einfache, klare Formen gegossen, ohne sich an bestehende Strophenformen zu halten. Naiv könnte nun auch bedeuten: unerträglich überbordende Liebesschnulzen. Doch genau an dieser Stelle scheidet sich naive Kunst von Naivität schlechthin.
Das Luftkind etwa handelt von einer Mutter-Kind-Beziehung nach einer Kindesentführung; Blut zeigt uns die schmerzlichen Seiten der Liebe. Und der Der Vogel erzählt davon, wie es ist, nie geliebt zu haben, bis diese eine Person kommt, in deren Haar das eigene Herz »sein Nest machen« will. Die Gedichte sind Gedichte des Traumes und Alptraumes von Liebe. Darin sind sie abgeschlossen, die Welt um sie herum spielt keine Rolle, darin sind sie naiv und zugleich philosophisch. Das ist kein Widerspruch – zumindest keiner, den die Dichtung nicht vereinen könnte. Vielleicht ist es sogar nötig, in einer Fremdsprache zu schreiben, um naiv bleiben zu dürfen. In der Kunst ist Naivität seit Beginn des letzten Jahrhunderts nicht mehr rein negativ besetzt, wir dürfen nun darüber nachdenken, was Naivität für uns bedeutet. Dazu laden uns Cocteaus sechs deutsche Gedichte ein.
Jean Cocteau
Das Blut der Liebe. Gedichte, in deutsch geschrieben
Pendragon Verlag, Bielefeld 1992
Softcover, 48 Seiten
ISBN: 3-923306-88-1
David Westphal, geboren 1989 in München, wo er auch lebt. Studium der Philosophie, Germanistik, Literatur- und Kulturtheorie zu Gießen und Tübingen. Gedichtveröffentlichungen in verschiedenen Anthologien.
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