Neugelesen – Folge 9: Gerhard A. Spiller: »Die Wiese badet im Gelb«

Literatur ist vergänglich, trotz ihrer Materialität. Denn allmählich entschwinden Bücher in Archivbibliotheken und verlassen unseren Erfahrungshorizont. David Westphal möchte in Nachfolge an die Kolumne »Wiedergelesen« dagegen anschreiben. Er stellt an jedem 15. des Monats Vergessenes und Neugelesenes in seiner Rubrik »Neugelesen« vor (in memoriam Erich Jooß, † 2017).

 

„König Herbst zieht ein, / die Birkenblätter fallen“.
Nein, so weit sind wir noch nicht – nicht ganz. Auch wenn das Sommerloch viele Blätter zu Fall gebracht hat (Tod durch Verbrennen), war dies nicht die Anordnung Ihrer Majestät, des Herbstes. Doch in einer Haiku-Sammlung kann der Herbst unmöglich unbemerkt an einem vorüberziehen.
Spillers Gedichtband ist dreigeteilt: Haikus, Senryus und Chokas. Spiller hält sich dabei an die deutsch-japanischen Traditionen. Wie üblich interpretiert er die Form von 5-7-5 japanischen Moren pro Vers in einem Haiku und Senryu als deutsche Silben. Das hat streng genommen nicht so sehr etwas mit japanischen Haikus und Senryus zu tun, ist doch aber längst zu einer eigenen Fusion des Deutschen und Japanischen geworden. Insofern stimmt es sehr wohl, dass sich bei Spiller Grenzen überlagern, so wie es im Ankündigungstext geschrieben steht. Seine Haikus bewegen sich dabei im üblichen Themenspektrum der Naturdichtung. Er hat ein feines Auge und entsprechendes, sprachliches Feingefühl für die Bilder, die er um sich herum findet. Bis auf wenige Ausnahmen allerdings ist sein Blick noch stark der Romantik verhaftet. Die idealisierte Naturverbundenheit steht seinen Gedichten gut, verkennt aber die zunehmende Veränderung und das Eingreifen des Menschen. Mithin gibt es so gut wie keinen unberührten Fleck Wildnis mehr auf unserem Planeten – den Rest erledigt der Klimawandel. Ein gelungenes Gegenbeispiel seien da hingegen die vor einer Holzauktion fliehenden Rehe.
Senryus haben zwar die gleiche Form wie Haikus, sind thematisch jedoch stärker auf persönlich Empfundenes gerichtet. Zu den schwierigsten, aber auch wichtigsten Aufgaben eines Dichters gehört gewiss, eine Sprache zu entwickeln, die uns Zugriff auf fremdes Seelenleben, und dadurch auf eigenes Innenleben, verschafft. Hier liegt nicht die Stärke von Spillers Dichtung. Viele Verse sind mehr als vertraut, wie etwa die seit Tucholsky etablierte, baumelnde Seele, die himmlische Freude, so süß wie Zucker. Hinzu kommt ein eher konservatives Verständnis der Frau: zu finden ist u.a. eine Hexe mit Liebestränken, eine sündige Eva und eine schwarzhaarige Schönheit. Man muss mit aktuellen Diskursen nicht übereinstimmen, aber die Dichtung sollte sie nicht einfach übergehen; wie auch der zu findende Begriff des Flüchtlings, verbunden mit einer friedlichen Abendstimmung belegt.
Die letzte Gattung, der sich Spillers Gedichte widmen, ist das Choka. Es hat üblicherweise sieben Verse mit 5-7-5-7-5-7-7 Silben. Es ist damit eine Abwandlung des Tankas (mehr dazu in Folge 4 dieser Kolumne: Wakayama Bokusui: In der Ferne der Fuji wolkenlos heiter). Unter formalen Gesichtspunkten sind dies die Schwergewichte des Bandes. Sie sind zwar gemischten Inhalts, doch kehrt das Meiste aus den ersten beiden Kapiteln wieder: Frühlingsgefühle, anbetungswürdige Frauen – auch gerne unter der Dusche und im Sommerkleid – und etwas Natur.
Insgesamt verleiten die Gedichte häufig zum Träumen und laden auf den letzten Seiten zum philosophischen Grübeln ein, doch allzu viel zu Denken bleibt bis auf einige Ausnahmen nicht übrig. Sie sind eher wie gern gesehene und wohl vertraute Gäste vor einer idyllischen Gartenlandschaft. Gespräche ziehen dahin, werden durchaus ernsthafter, und bleiben letztlich in dieser klassisch verstandenen Idylle gefangen. Die faulig riechenden Äpfel bei den Obstbäumen und die Würmer im Komposthaufen sind in diesem Band nur Komparsen.

Gerhard A. Spiller
Die Wiese badet im Gelb. Haiku, Senryu, Choka
Verlag Steinmeier, 2018
Softcover, 90 Seiten
ISBN: 978-3-943599-58-9

 

 

David Westphal. Foto: Volker Derlath
David Westphal. Foto: Volker Derlath

David Westphal, geboren 1989 in München, wo er auch lebt. Studium der Philosophie, Germanistik, Literatur- und Kulturtheorie zu Gießen und Tübingen. Gedichtveröffentlichungen in verschiedenen Anthologien.

Alle bereits erschienenen Folgen von »Neugelesen« finden Sie hier.

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