Poesie als Universalschlüssel: Anna Breitenbachs poetologische Wundertüte »Dichte Nähe«

Eingestreute Kritik von Hellmuth Opitz

Frau Breitenbach hat eine produktive Phase: Die Schallwellen ihres letzten Gedichtbands »Love Shots« sind noch nicht verklungen, der geneigte Leser hat noch Schmauchspuren an den Händen vom vielen Blättern, da schießt schon ihr nächstes lyrisches Kaliber virtuos scharf. Und ja, dieser Band enthält zwar auch viele Gedichte, aber er ist mitnichten ein reiner Gedichtband, eher ein poetologischer Gemischtwarenladen. Das beginnt schon mit dem ersten visuellen Eindruck. Der Band heißt »Dichte Nähe«, doch der Titel entfaltet trotz der scheinbaren Tautologie erst im Zusammenspiel mit dem Cover-Foto seine volle Wirkung. Das Foto zeigt den Beginn einer Unterführung oder eines Tunnels mit dem Hinweis: »Lichte Höhe 4 m«. Und als neugieriger Rezipient denkt man sofort: »Lichte Höhe. Dichte Nähe« – das beschreibt doch in nur vier Worten perfekt die Programmatik zugänglicher und dennoch anspruchsvoller Gedichte. Der Untertitel macht dann auf zupackende Art klar, worum es wirklich geht: »Körper. Wörter. Wirkstoffe.« Poesie verfassen als sinnlicher Prozess.

Mitreißendes Cross-over mit Zugänglichkeit und literarischem Anspruch

Es erwartet die Leserschaft ein mitreißendes Cross-over verschiedener Stile. Neben Gedichten sind dies: Prosa, literaturwissenschaftliche Merksätze, Bonmots fürs schwarze Poeten-Brett, lyrische Miniaturen, Geschichten, Rezepte für die richtige Inspiration und das Finden der passenden Worte. Natürlich auch zur fein austarierten Balance zwischen Zugänglichkeit und literarischem Anspruch. In dem Poesie-Dreizeiler »Erkennungsdienst« heißt es auf Seite 125: »Das Gedicht kommt mir / auf halbem Wege entgegen / als ob wir uns kennen?« Angesichts dieses Verständigungsangebotes rotten sich die Hermetiker alle Länder natürlich besorgt zusammen und rufen: »Halt, Frau Dichterin, im Namen des Abendlandes, so einfach ist es denn doch nicht!« Anna Breitenbach ficht das nicht an, und sie kontert wortverspielt:

Gedichte sind

Morseburger Zaubersprüche
Und sie melden eben nicht:
SOS! An alle! Save our souls!
Kein Land in Sicht.
Sie funken: Bleib ruhig, wir
sind schon unterwegs zu dir.

Auch hier spielt wieder das Entgegenkommen des Gedichts eine entscheidende Rolle. Es ist eben kein abweisendes, in sich geschlossenes System oder undurchdringliches Labyrinth verrätselter Sätze. Im Gegenteil: Es eilt herbei, um zu helfen. Es ist ein Universalschlüssel zum Verständnis der Welt. Überhaupt traut Anna Breitenbach dem Gedicht eigentlich alles zu.

Frech, selbstbewusst – und mit feinem Gespür

Und so liest sich »Dichte Nähe« auch: Ein Ermutigungsbuch für Schüchterne, die dem Gedicht nur ein Mauerblümchendasein zutrauen. Eine Art Fitnessfibel für alle, die möchten, dass ihre Gedichte ein wenig resiliente Muskulatur gegen die Zumutungen der Zeit aufbauen. Ein quicklebendiges Traktat für alle, die ans Gedicht glauben und Bestätigung brauchen. Und die liefert Anna Breitenbach – frech, offensiv, selbstbewusst. Gleichzeitig aber hat sie ein feines Gespür für die eigene Position im Team, das für die Poesie spielt:

Mittelfeld

Ich spiele
im Mittelfeld
wenn mich wer
fragen würde
wo ich spiele
würde ich sagen
Mittelfeld
Und nur für mich
noch dazu:
eigentlich Sturm.

Ein charmantes, augenzwinkerndes Bekenntnis zum eigenen Offensivdrang, dem Riecher dafür, wann es poetische Chancen zu verwandeln gilt. Bei aller positiven Energie, die Anna Breitenbach aufbringt und die sie quasi zur Motivationstrainerin für die Gattung des Gedichts macht, kommt eines vielleicht ein bisschen kurz: Es ist die Melancholie, auch eine wichtige Triebfeder exquisiter Poesie. Bei Anna Breitenbach heißt sie anders, nämlich Schwermut und die »hat der Stein im Blut«. Sie schreibt der Schwermut die Eigenschaft des Unbeweglichen zu – wie eben dem Stein – oder wenn schon Bewegung, dann die eher träge vorgetragene Kraft eines Kaltblüters. Verständlich, wenn man so eine energetisch aufgeladene, temperamentvolle Lyrikerin wie Anna Breitenbach ist.

Wunderbarer poetischer Erste-Hilfe-Koffer

Insgesamt ist dieser Band ein wunderbarer poetischer Erste-Hilfe-Koffer für alle, die der Dichtung zugeneigt sind. Gerade der Stilmix macht den Reiz dieser poetologischen Wundertüte aus. Selbst Zweifler und Zauderer, die der Lyrik allgemein nachlassende Wirkung bescheinigen, werden hier nicht nur Trost, sondern auch einen echten Kraftquell neuen dichterischen Selbstbewusstseins finden. Schließlich eröffnet die Poesie neue Sichtweisen in einer materiell geprägten Welt, oder wie Anna Breitenbach es in ihrer einfachen, unnachahmlichen Art formuliert: »Die Poesie zeigt uns was / wir nicht gesehen haben / vor lauter Sehen und Haben.«



Anna Breitenbach
Dichte Nähe

Konkursbuch Verlag Claudia Gehrke
Klappenbroschur, 198 S.
15,00 €
ISBN 978-3-887691-54-7


 

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