Poesie. Meditationen – Folge 10: Verteidigung eines Umrisses von Schönheit?

In den »Poesie. Meditationen« treffen Sie Timo Brandt: Der junge Lyriker und Lyrik-Kritiker (Jahrgang 1992) lässt Sie teilhaben an seinem ganz persönlichen Zugang zur Lyrik: Bei der Lektüre von Gedichten fließen Eindrücke zum Tagesgeschehen und poetische Impressionen zusammen. Der Leser begibt sich in einen beinahe meditativen Zustand, ganz im Hier und Jetzt und achtsam gegenüber den Phänomenen im gegenwärtigen Augenblick. Der Verknüpfung von Gedicht und Gedankenfluss geht Brandts Kolumne nach.

 

In vielen Gedichten ist eine Verteidigung der diskreten Schönheit beheimatet. Und ich meine wahrhaftig: beheimatet. Der Spiegel, der enthalten ist in der Poesie, und jene Schönheit, die wir an uns, mit uns, um uns haben, in unser Blickfeld bringt (und vielleicht gar erschafft?), ist nur dort zu finden und sonst nirgendwo. Ja, ich gehe soweit zu sagen, zu behaupten, dass die diskrete Schönheit eine Erfindung des Poetischen ist und es wesentlich bedingt und ausmacht.

Der Unterschied zwischen einem, der Verse und Gedichte macht, und einem Dichter, ist meist, wenn auch nicht ausschließlich, die Vermeidung der offensichtlichen Schönheit. Auch diese Schönheit soll gewiss nicht in Vergessenheit geraten (und vielleicht kann sie durch die richtigen (eigenwilligen) Metaphern zu einer diskreten Schönheit werden) und wir vergessen allzu leicht sie zu würdigen. Aber wenn Gedichte nur aus einem Anrufen und Nennen der offensichtlichen Schönheiten bestehen, sind sie lediglich Illustrationen der Welt und nicht ein Entdecker, durch Worte sehend, streifend in ihr.

Der Ruf der zeitgenössischen (Verlags-)Lyrik »ungenau«, »langweilig«, »sinnentleert« oder »unverständlich« zu sein, ich hab ihn sehr oft und aus den verschiedensten Mündern vernommen und sollte auch mein ehemaliges Naserümpfen nicht von diesem Chor ausschließen, der um diese Anklage entstanden ist und nur nie auftritt, weil er lieber vielen Dichtern den Marsch blasen würde, statt Hymnen anzustimmen. Diese Vorwurfhaltung, der ich selbst schließlich entkam, als ich begann die zeitgenössische Lyrik zu lesen, hat mich selten als Meinung, aber in jedem Fall als Urteil gestört. Ich bin allgemein kein Fan von einfachen Urteilen, weil sie oft das Verständnis aussparen, wo es nicht viel gekostet hätte, es anzubringen. Aber dieses Urteil, das ich erst heute wieder hören durfte, ist in einer Hinsicht noch schlimmer: es rüttelt an einer meiner tiefsten Überzeugungen.

Die Überzeugung, dass jedes gute Gedicht, das bisher geschrieben wurde, etwas gerettet hat, das sonst verloren gegangen wäre. Lyrik ist der Boden, auf dem etwas zersplittert, das ansonsten in das tiefe Nichts des fortlaufenden Daseins gestürzt wäre. Vielleicht hat die zeitgenössische Lyrik sich darauf spezialisiert nicht alle Scherben aufzulesen, oder die kleinsten oder die schärfsten, vielleicht hat sie aufgehört, die Splitter zusammenzufügen und angefangen, sie einzeln zu betrachten. Was man auch immer von dieser meiner Metapher halten mag: Die zeitgenössische Lyrik hat sich zu eben jenem Erbe verpflichtet, dass schon alle Dichter seit jeher angetrieben hat: Finde den Umriss des Wesentlichen. Was das Wesentliche ist, darin sind sich nahezu alle (alle!) Dichter uneinig. Aber Einigkeit ist letztlich keine Option für die Poesie, die sich immer wieder neu erfinden und die Welt neu einfangen will, lediglich als ein vages Ziel, der letzte Umriss, könnte die Einigkeit taugen und in gewissem Sinne sind sich alle Gedichte, ob heute oder gestern, einig: Da draußen existiert ein Raum, den zu spiegeln, in Sprache zu weben sich lohnt.
 

Timo Brandt
Timo Brandt

Die »Poesie. Meditationen« werden Ihnen von Timo Brandt (Jahrgang 1992) präsentiert. Er studiert derzeit an der Universität für angewandte Kunst in Wien, am Institut für Sprachkunst. Er schreibt Lyrik und Essays, außerdem veröffentlicht er Literatur-Rezensionen auf seinem Blog lyrikpoemversgedicht.wordpress.com, Babelsprech.org und Amazon. 2013 war er Preisträger beim Treffen junger Autoren.

Alle bereits erschienenen Folgen der »Poesie. Meditationen« finden Sie hier.

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