Ín den »Poesie. Meditationen« treffen Sie Timo Brandt: Der junge Lyriker und Lyrik-Kritiker (Jahrgang 1992) lässt Sie teilhaben an seinem ganz persönlichen Zugang zur Lyrik: Bei der Lektüre von Gedichten fließen Eindrücke zum Tagesgeschehen und poetische Impressionen zusammen. Der Leser begibt sich in einen beinahe meditativen Zustand, ganz im Hier und Jetzt und achtsam gegenüber den Phänomenen im gegenwärtigen Augenblick. Der Verknüpfung von Gedicht und Gedankenfluss geht Brandts Kolumne nach.
Die Einbahnstraße der Zeit ist die einzige Blüte des Nichts. Die Zeit ist das Geschenk der Ewigkeit an die Dinge, die etwas erleben können und nicht nur sind. Die Zeit ist ein Muskel: sie bewegt mit ihrer Kraft die Dinge; manchmal wirkt sie stärker, manchmal schwächer, je nachdem, wie intensiv man gerade den Gedanken an sie, als Widerstand oder als Katalysator empfindet.
Es gab Versuche und es wird Versuche geben, die Zeit zu widerlegen. Nietzsche prägte (2400 Jahre nach dem vermeintlichen Erfinder Pythagoras) den Begriff der ewigen Wiederkehr, in der Zeit nur ein unveränderlicher Raum der Ewigkeit ist und nicht ihr Einlösen, Verzögern, Entziehen und Vollenden.
Jorge Luis Borges fasste die Zeit auf ähnliche Weise als eine Wiederkehr von Mustern auf, nicht als eine Entwicklung – ein ewiges Legen von Dominosteinen; nichts Neues wird erschlossen, nichts entgeht diesen Mustern, aber die Gefühle, Rituale und Ideen, die Essenz, sind in ihnen bewahrt und das ist tröstlich, so Borges.
Für Joseph Brodsky war Zeit das Erscheinen der nächsten Welle und das Brechen der derzeitigen und die Frage, ob es nicht eigentlich nur das Meer gibt.
Und dann sind da all die anderen Dichter und Gedichte, die Stimmungen und Momente wahren und erzeugen. Sie trotzen, so scheint es uns, dem eigentlichen Problem der Zeit, indem sie sich für den Augenblick entscheiden. Sie entziehen sich dem Verlauf und erschaffen die Ewigkeit am kleinsten aller Orte, in der breitesten aller Wirklichkeiten.
Eines der schönsten und lesenswertesten Gedichte von Konstantin Kavafis handelt vom Wert der Reise, vom Wert der Zeit. In »Ithaka« nimmt er die gleichnamige Insel, ein Symbol des großen, finalen Ziels, zum Anlass, uns eine Wahrheit über die Zeit und unsere an sie verratene Existenz mit leichter Geste zu präsentieren; diese Weisheit ist einfach und kurz und lautet: Es gibt kein Ziel, denn das Ziel ist die Illusion eines imaginären Eingehens der Zeit in die Ewigkeit, wie der Moment es scheinbar bewerkstelligt, würde er nicht wieder von einem neuen Moment abgelöst. Mit dem Ziel, so der Gedanke, soll die Zeit, irgendeine Zeit, auch enden. Aber die Schönheit der Zeit liegt nicht in ihrem Ende oder ihrer Vollendung, sondern im Verstreichen, das den Verstand des Menschen und die Wirklichkeit seiner Erinnerung, mit immer neuen Fernen und Nähen bestückt. Der Wert der Zeit existiert nur, weil es den Abgrund der Zeit gibt. Die Zeit entreißt, aber wir besaßen auch, sonst könnte sie uns nichts nehmen; deswegen sind wir nie ohne etwas. Hesse trägt uns diesen Gedanken in den Versen seiner »Stufen« entgegen. Das Haben und Verlieren sind die Pole so vieler Gedichte.
»Die Ewigkeit / ist voller Eifersucht / auf den Augenblick. / Dann war der Augenblick vorbei.« (zitiert aus Charles Simic, »Ein Buch von Göttern und Teufeln«, Übersetzung H. M. Enzensberger) – Kann man sich als Dichter, der etwas »verdichtet«, die Wahrnehmung einer Erscheinung sensibilisiert, überhaupt mit etwas anderem auseinandersetzen, als Geburt und Tod und Lebenszeichen der Zeit; dem Kampf Vergehen vs. Ewigkeit? Der Dichter Charles Simic schreibt von der Eifersucht der Ewigkeit und von der Freiheit und Schutzlosigkeit des Moments. Wir spüren, dass das Menschliche der Moment ist und die Ewigkeit letztlich das Universum, das uns kaum widerspiegelt. Und in diesem Widerspruch erkennen wir aber auch: wir erforschen die Ewigkeit an dem Punkt, wo sie uns betrifft. Als Sehnsucht, nicht als Tatsache. Und wenn man sie so betrachtet, ergeben Augenblick und Ewigkeit beinah dasselbe; ein verfeindetes Geschwisterpaar, das doch vom selben Blut ist und mit seiner Konkurrenz die Undurchschaubarkeit und Schönheit des Daseins errichtet. Und die Dichter offenbaren mit ihren Worten die verdrängte Liebe zwischen ihnen.
Die »Poesie. Meditationen« werden Ihnen von Timo Brandt (Jahrgang 1992) präsentiert. Er studiert derzeit an der Universität für angewandte Kunst in Wien, am Institut für Sprachkunst. Er schreibt Lyrik und Essays, außerdem veröffentlicht er Literatur-Rezensionen auf seinem Blog lyrikpoemversgedicht.wordpress.com, Babelsprech.org und Amazon. 2013 war er Preisträger beim Treffen junger Autoren.
Alle bereits erschienenen Folgen der »Poesie. Meditationen« finden Sie hier.
Sehr schöner Beitrag! Ich persönlich würde mich -wenn man mich fragte- gern für Brodskys Definition entscheiden. Vielen Dank für diesen anregenden und inspirierenden Text und meine herzlichsten Grüße.
Die ubiquitären Möglichkeiten die uns die Zeit schenkt, sind vielleicht der einzige Weg in unserem Mensch-Sein, jenes Unsichtbare zu verspüren oder zu erkennen, dass die Zeit selbst letztendlich bewirkt: So taumeln wir am Band der Kräfte über einem Abgrund der Chancen, dessen Sturz die starre Verpuppung unserer Körper innerhalb der Gesetzmäßigkeiten aufzulösen vermag. – Es ist ein Spiel im Irdischen – im Reich der Fülle all der Farbsprenkel unseres Daseins – das eben mehr ist als ein trostloses Wandeln durch die Räume. – Es gilt zu erkennen, dass die Zeit eine Aufgabe ist: zu finden und zu konvergieren mit unserer wahren Natur. – In diesem Sinne kann auch die Dichtung als Aufgabe begriffen werden, die sanfthändig Wege weist, nämlich dann, wenn Dichtung die Schlacke reinsten Magmas der Seele wird:
Nähe aus dem Nichts
Wenn ein Tag die Türen schließt,
tritt jene Nähe aus dem Nichts heraus –
Nähe, die sich neu ergießt,
in einen dürstend Fluss der Zeit hinaus –
und legt Vergang in deines Lebens Last.
Die schwere Schwelle wartet
auf einen schnellen Schritt, – spürst du die Hast ?
Dein heißes Herz erwartet
nun schon lang den Hilferuf: Erlösung!
Der Wein, die Flüsse, quellen;
es reibt die sterbende Erinnerung
an deinen wunden Stellen.
Ich bin stolz auf meinen Sohn. Ich als Business Man habe es nicht drauf, mit Sprache so zu spielen. Ich habe da bisher in meinem Leben etwas verpasst.