In 21 Folgen stellt die Online-Redaktion der Zeitschrift DAS GEDICHT internationale Reisepoesie aus vier Jahrtausenden vor. So können Sie sich gemeinsam mit uns auf den Weg zur neuen Ausgabe von DAS GEDICHT begeben. Die buchstarke Nummer 21 wird ab Herbst 2013 zeitgenössische Gedichte versammeln, die ums Reisen kreisen.
http://youtu.be/PuHGWUz11-4
Johann Gottfried Seume
»Der Pass«
Wenn wir am Rand des Lebens stehen,
Und alles, was die Erde hält,
Rund um uns her zusammen fällt,
Wenn Kronen mit dem Bettelstab vergehen;
Wenn Herrn von weiten, weiten Reichen,
Die gestern noch mit ihrer Riesenhand
Den Orient und Okzident umspannt,
Heut ihren letzten Sklaven gleichen;
Wenn eitler Weisheit Dunst zerstäubt,
Und von den Hypothesenkrücken,
Der größten Köpfe Meisterstücken,
Kaum noch ein Splitter übrig bleibt;
Wenn heilge, heilge Dunkelheit
Des Sinnes Ohnmacht schwer umhüllet,
Und ein Gedanke nur die Seele füllet,
An Gott und Nichts und Ewigkeit:
Dann, dann ist Eine gute Tat,
Im Sinn des Testaments getan,
Ein beßrer Paß zur unbekannten Bahn,
Als aller Pfarrer Attestat.
(aus: Seume, Johann Gottfried: Gedichte. Leipzig 1801 S. 109f.)
Über Johann Gottfried Seume
Johann Gottfried Seume (1763–1810) schien für jede Schlacht zu spät zu kommen oder zu früh zu sterben. Der Leipziger Dichter schließt sich dem Heer des Landgrafen von Hessen-Kassel an und lässt sich für Revolutionszwecke nach Amerika verpachten. Im August 1782 landet er in Halifax, Kanada. Seine Autobiographie ist ein amüsantes Werk und eine interessante Quelle der amerikanisch-europäischen Milieugeschichte wie etwa Jahre später der politische Reisebericht von Alexis de Tocqueville. Es sind Perspektiven und subjektive Erfahrungen, die sich mit solchen Figuren in die Weltgeschichte einschreiben lassen.
Der Aphoristiker, Theologe und Lyriker Seume schreibt in seiner Autobiographie zwar wenig über Washingtons fabelhafte Überquerung des Delaware, die Seeblockade der Chesapeake Bay, oder Yorktown; dafür aber gibt es viel über seinen Aufenthalt im Militärlager in Kanada zu lesen:
»Unser Leben in Halifax bestand in einem Drittel deutscher Gewöhnlichkeit, einem Drittel huronischer Wildheit und einem Drittel englischer Verfeinerung; und nach dem verschiedenen Charakter der Individuen stach eins von diesen Dritteln hervor. Bei mir blieb wohl meistens der Deutsche sitzen, obgleich Briten und Huronen mein Studium waren und bald diese bald jene den Vorzug behielten. […] In dieser Zeit machte ich Münchhausens oder er vielmehr meine Bekanntschaft. Ich saß im Zelt und wärmte mich gegen die nasse Kälte etwas an Flaccus Odenfeuer, da schlug ein Offizier den Zeltflügel zurück und fragte, ob ich der Sergeant Seume wäre.«
Gleichwohl bleibt Seume stets ein unermüdlicher Reisender, ein Abenteurer, vielleicht auch auf seine Weise ein Anarchist, der weite Teile Europas erkunden sollte. Seine Lyrik spiegelt auch diese Reisewut der europäischen Intelligenzija des frühen 19. Jahrhunderts wieder (Wilhelm Heinse und William Wordsworth sind ja ähnliche Beispiele für Will in the World) – mit allen Vorurteilen und Eigenarten seiner Ära. Etwa im Gedicht »Der Wilde«, das ein Bild des Noble Savage bedient: »Und ein Herz, wie Gott es ihm gegeben, / Von Kultur noch frey, im Busen fühlte.«
Diese Auswahl von Reisegedichten aus vier Jahrtausenden wird Ihnen von Paul-Henri Campbell präsentiert. Campbell ist 1982 in Boston (USA) geboren und schreibt Lyrik sowie Prosa in englischer und deutscher Sprache. Zuletzt erschien »Space Race. Gedichte:Poems« (2012). Im Herbst erscheint »Am Ende der Zeilen. Gedichte.«
Mehr Reisegedichte erwarten Sie in DAS GEDICHT 21 (erscheint im Oktober 2013).