rezensiert von Paul-Henri Campbell
Walle Sayer: »Strohhalm, Stützbalken«
»Ein Kolumbus sein,
der den Ort entdeckt,
in dem er lebt seit fünfzig Jahren.«
(Walle Sayer: Rochaden)
In seinem neuen Gedichtband »Strohhalm, Stützbalken« (Klöpfer & Meyer 2013) träumt Walle Sayer den Traum einer Expressivität, die unbestimmt bleibt, weil sie offen ist, und die eindringlich ist, weil sie nichts vereinnahmen will. Im Klappentext heißt es: »Weit weg vom Seinsgehabe, Sinngetue. Und einfach sein. […] Ein lichter Hallraum entsteht. Bis aus dem Gesehenen Gesehenes wird.«
Das klingt zunächst robust und bodenständig mit einem Touch Heidegger: Ein Dichter, der weiß, wohin er gehört, von niemandem etwas will und einfach seine Verse dahinorakelt. Ich denke, man könnte diese Haltung mit »nouveau naïveté« bezeichnen; keineswegs abgeklärt oder verächtlich. Denn es ist in der Tat so, dass Walle Sayers Gedichte frei sind von einem spöttischen, wissenden contemptus mundi, der so viele zeitgenössische Gedichte vergiftet. Sayers ungenierte Alltäglichkeit ist gleichsam erschreckend wie auch charmant: »Durch solch ein Kassengestell gesehen, / sind die unerreichbaren Mädchen / noch unerreichbarer. // Ein angehender Jüngling / und die Tümpel seiner Augen« (Walle Sayer: Brillenverordnung).
Durchschnittlichkeit als poetische Frage
Im eben zitierten Gedicht Brillenverordnung begegnen wir einem seltsamen Insistieren auf die Durchschnittserfahrung. Das Sehen, worum es hier geht, ist nicht durch den Filter einer Designerbrille gelaufen; es ist die Perspektive des »Kassengestells«. Hier zwinkert Sayer uns zu mit dem verschlagenen Witz eines Buben, dem nun mit der Sehhilfe nicht seine Vergänglichkeit bewusst wird, sondern die schmerzlichen Sabotage seiner Chancen bei den »unerreichbaren Mädchen«.
Wo leben diese Durchschnittserfahrungen? Irgendwo bei den frühen Erfahrungen oder den kleinen Schwellen und sanften Übergängen, jedenfalls im Hinterland. An den Peripherien der Welt ist die Gewalt der Zentrifugalkräfte der Metropolen geringer. Der Kreativität bildet ein solches Umfeld womöglich die notwendige Offenheit, um ganz bei sich zu sein und dort anzufangen. »Im Rückspiegel verliert sich / Umgebung in einer Miniatur // Erst vorgestern doch hab ich dir / die Stützräder am Fahrrad abmontiert. // Ohne Getriebegruß, / ohne den Motor abzuwürgen, / das Lenkrad krampfhaft umfasst, / stößt du dich ab vom Rand des Nests« (Walle Sayer: Erste Fahrstunde). Die Verse sind knapp und direkt. Das Lot wird gespannt durchs große Forum menschlicher Verhältnisse – Beziehungen zu anderen, zu sich selbst, Umstände, Umgebungen, das Jetzt, das Gestern. Jedes, fast jedes Gedicht aus »Strohhalm, Stützbalken« spricht im Präsens. Man ist geneigt zu sagen, es steht im Präsens.
Und klingen Walle Sayers Poeme daher nicht auch wie Einsichten, die plötzlich aufkommen beim Rasenmähen oder Blumengießen, beim Geschirrspülen oder dem Nachschauen einer Stubenfliege? Epiphanien, die den trivialen Fluss des noch trivialeren Lebens unterbrechen. Und in dieser Zäsur kommt dem Leser ein ganzes Inventar an Personen, biographischen Souvenirs, Situationen entgegen.
»Näherinnenschrammen / in Kamillentee eingeweicht. // Wie kühl das Weihwasser war / auf den Fingerkuppen. // Schaffhände, Spülhände, und deren zerfurchte Lebenslinien. // Eine Mädchenkindheit: als im Spiel / man einfach Harz statt Nagellack / auf den Fingernägeln / sich verrieb« (Walle Sayer: Maniküre). Wer oder was ist das Objekt dieser Vergegenwärtigung? Ist es eine plötzliche Einsicht in das Leben der Mutter, der Großmutter, einer der geschwätzigen Tanten? Zwei Ebenen der Erfahrung bzw. des Erinnerns brechen sich in Maniküre: Es sind die Auswirkungen einer Tätigkeit innerhalb eines spezifischen Milieus »Näherinnenschrammen« oder »Schaffhände, Spülhände«. Und dennoch – wem gehört die sinnliche Erinnerung aus dem dritten und vierten Vers: »Wie kühl das Weihwasser war / auf den Fingerkuppen.« Spricht hier das lyrische Ich mit sich selbst, die Erfahrung der Kühle des Wassers vergegenwärtigend? Oder ist diese in Erinnerung gerufene Erfahrung schon klar zuzuordnen, nämlich der Person, der jene »Mädchenkindheit« gehörte? Soll sie neben der arbeitsamen auch fromme Charakterzüge ins Gedicht bringen? Die Intimität zwischen präsentisch gemachtem Gegenstand der Erinnerung (Mutter/Großmutter?) sowie der eigenen Erfahrung des sich erinnernden Subjekts entsteht am Schnittpunkt, dort wo sich diese beiden Modi der Erinnerung berühren, wo es unklar ist, ob der Erinnernde oder das Erinnerte im Vordergrund stehen.
Von Walle Sayer sind keine Revolutionslieder zu erwarten. Und doch liegt das kritische Potenzial &ndash: um die Formel zu bemühen &ndash: in dem eigentümlichen Staunen, das der Dichter der Welt abringt und krümelweise in seinen Texten fixiert. Dieses Staunen erhöht sich umso mehr, da Sayer seine kurzen Retrospektiven und Epiphanien situiert in dem naiven und arglosen, scheinbar unschuldigen Habitus des Hinterlands: »Als ich / aus ausgespülten Senfgläsern / Apfelsaft trank. // Nichts anderes kannte. // Mich einmal auf die Sackwaage stellte / und einen halben Zentner wog. // Irgendwann einen schlotternden Maßanzug trug, / in den ich hineinwuchs, bis er passte« (Walle Sayer: Und alles Erfundene nur vorauserzählt war). Oder: »Hörst du / diesen Schellennarr, / der versucht, sich anzuschleichen. // Oder war das Käthes Ladenglocke, / und du hast wieder vergessen, / was du mitbringen sollst. // Tabak, den billigeren, den Olanda, / einen Hefewürfel, eine Grablichterpackung, / und Gummiringe noch fürs Einmachglas. // Das Rausgeld, das Bierflaschenpfand: reichte für Zuckerperlen / langte für Bärendreck« (Walle Sayer: Erinnerungsfrequenz). Die amerikanischen Soaps und TV-Serien, die gerade die Abgründigkeit der Suburbia thematisieren, scheinen in diese heile Welt noch nicht vorgedrungen zu sein.
Die provinzielle Ikonographie, der unverstellte, auch unverblümt kleinbürgerliche Kosmos, der sich präsentiert, ohne die nervösen Dünkel der gesellschaftlichen Stellung, geben diesen Versen etwas rückhaltlos Offenes. Und gewiss: Sollten die Professoren der Ästhetik zum Stechschritt gen »Différance« aufrufen, wird Walle Sayer die andere Richtung einschlagen. Denn Sayer hat keine Angst vor sich selbst. Er muss seine Reflexivität nicht dokumentieren, hat keine Hühnchen zu rupfen und wird doch subversiv, indem er das dichtet, was er ist – und das ist vielleicht in dieser Manier provokativ und skandalös genug.
Ich sage dies im Übrigen ohne Beifall noch als Apologie. Denn wem Gedichte, die Fußballbildchen sammeln, Zündelalter oder Bierkrüge auf einem Regal heißen, zu bieder oder peinlich sind, der führe sich die Malereien der holländischen Meister nochmals vor Augen. Markierte nicht gerade deren Aufmerksamkeit für Fallobst, Zinnbecher, die Interieurs der heimischen Stuben und Wirtshäuser oder scheckigen Hündchen eine Wende fort vom heilsgeschichtlichen Supernarrativ der Kirchenmalerei oder dem höfischen Klassizismus? War das Ergebnis nicht auch die Entdeckung einer neuen Intimität und der Gewinn eines neuen Selbstbezugs für jene, die mit den großen Narrativen und den raffinierten Vexierspielen nichts anfangen konnten?
Verismo
Fußballbildchen sammeln, beispielsweise. Dieses Gedicht zeigt, denke ich, den veristischen Grundzug dieser Form der Imagination sehr schön: »Nah, das Abstrakte / an Schlammspritzern, / und wie sie gegenständlich werden / auf dem Trikot des Schönwetterspielers.« Der Sport des Fußballs als vermitteltes Ereignis, als Fernsehsendung oder als entfernte Zuschauerposition im Stadion hat gewiss seinen Olymp und sicherlich seine Helden. Panini lässt die unproblematischen Kinder Deutschlands aus Duplo-Riegeln ihre ersten Sammlerleidenschaften erleben. Walle Sayer jedoch will das Sammeln nur dann gelten lassen, will die Verehrung der Spieler nur dann gut heißen, wenn sie genährt ist von »Schlammspritzern« auf dem Trikot. Wir finden hier also diesen Wunsch oder Traum von Walle Sayer, worin jede Medialität gedeckt sei durch primäre, autonome Erfahrung – daher der veristische Zug dieser Gedichte, ihr präsentischer Gestus.
Er saugt sich seine Texte aus seiner Begegnung mit der Welt. Woher sonst sollte er sie nehmen? Und, sollte dies der Fall sein, ist sodann das epigrammatische Schnipsel eine Art Manifest: »Den Apfel vergleichen mit einem Weltentwurf. / Eines Astwerks Krakelschrift entziffern. / Die Windböe hat eine Mähne« (Walle Sayer: Schnipsel)?
Aber ertragen wir diese schamlose Zelebration des Mikrokosmos, die uns in aller Anständigkeit der Authentizität präsentiert wird? Geschmackssache, sicher. Und doch wird der anamnetische Sinn ganz wach und angeregt bei solchen Versen: »Während der Nachtbus / mit einer Leerfahrt das Dunkel abfährt, // sinnieren Ehemänner im Schlafanzug / rauchend auf Balkonen, // vernimmt eine Fledermaus / die Lautstärke einer Lichthupe, // sucht auf der nächsten Dorfdisco / jemand nach einer Salome, // zeigt ein Alkomat nichts als an: / dass du Melancholiker bist« (Walle Sayer: Die Knüpftechnik der Mitternacht). Plötzlich ist der Kopf voller Erinnerungen, sofort verspürt man als Leser die melancholische Gefühlsprägung, die ebendiese Bilder und keine anderen aufgreift in ihrem Lied. Und doch bleiben diese Texte – bis in ihre Selbstreflektion hinein – ohne Abgründe. Oder was ist schon die Feststellung, Melancholiker zu sein? Oder diese hier, die die Spannung zwischen einst gemachten Einträgen in ein Poesiealbum und der Gegenwart inszeniert: »Margaritenblätter abzählen / zerknitterte Geldscheine bügeln. / […] Realität und Wirklichkeit sind drei Paar Schuh. / Drei Paar Schuh und keines passt« (Walle Sayer: Poesiealbumzeilen).
Wo Erotik ein Errötchen ist
Wir sind bei sanften Eingeständnissen und delikaten Einsichten angekommen. Bei all dieser Arglosigkeit allerdings ist man gelegentlich doch genötigt zu schmunzeln. Etwa im Gedicht Bierkrüge auf einem Regal. Es ist situiert in einer Kneipe, irgendwo auf dem Land, wo »es eine ledige Bedienung gab, die wußte, / ob du Linkshänder, Rechtshänder bist. // Und dir / den Henkel / danach ausgerichtet hat« (Walle Sayer: Bierkrüge auf einem Regal). Ähnlich auch die Kontrapunktstellung in einem anderen Gedicht einer Jugendliebe und jener: »Dagegen dies: Stockrose, / Königin der Malven, / als Duftnote einer verheirateten Frau, / mit der du an der Sektbar flirtest« (Walle Sayer: Riechfläschchen). In Walle Sayers Kompendium des ländlichen Mikrokosmos erscheinen solche Szenen schon fast gewagt. Ihre Erotik ist schamhaft, etwas zögerlich, fast verklemmt. Und man fragt sich, ob die Szenen genügen, um dieses hinterländische Gehege der Anständigkeit zu durchbrechen. Sind diese beiden schlüpfrigen Momente tatsächlich emanzipatorische Augenblicke inmitten der stickigen Impressionen oder bleiben sie die züchtige Dekadenz einer Hausfrau? Ist in dieser arglosen Welt also die Erotik lediglich ein Errötchen? Es ist eine Frage, die das Publikum jeweils für sich entscheiden muss. Aber vielleicht lenkt Sex nur ab angesichts einer solchen Fülle an minuziösen Details, die Walle Sayer zu einem anregenden Band versammelt hat.
Strohhalm, Stützbalken
Walle Sayer
Klöpfer & Meyer, Tübingen 2013
116 S.
€ 16.00 (Gebundene Ausgabe)
Diese Rezensionen werden Ihnen von Paul-Henri Campbell präsentiert. Campbell ist 1982 in Boston (USA) geboren und schreibt Lyrik sowie Prosa in englischer und deutscher Sprache. Gedichtbände: »duktus operandi« (2010), »Space Race. Gedichte:Poems« (2012). Er ist ebenfalls Übersetzer und Mitherausgeber der internationalen Ausgabe der Lyrikzeitschrift DAS GEDICHT (»DAS GEDICHT chapbook. German Poetry Now«). Soeben erschienen ist »Am Ende der Zeilen. Gedichte | At the End of Days. Gedicht:Poetry«.