rezensiert von David Westphal
Ikarus, Sohn des Daedalus, Gefangener im Labyrinth des Minotaurus auf Kreta, flog einst, um zu entfliehen, mit selbst gebauten Flügeln, voller Übermut zu nah an die Sonne, stürzte ab und starb im Meer. Dieser griechische Mythos ist bekannt – doch was hat er mit Axel Kutschs Versflug zu tun? So alt wie der Mythos ist Axel Kutsch gewiss nicht und doch darf man getrost von einem Urgestein der zeitgenössischen Lyrik sprechen: Kutsch hat mittlerweile zwölf eigenständige Lyrikbände vollendet, sich als Herausgeber von Anthologien verdient gemacht und zu vielen Zeitschriften und Gedichtsammlungen beigetragen. Da ist es durchaus gerechtfertigt, einen Sammelband mit ausgewählten Gedichten seines Schaffens von 1974 bis 2015 auf 175 Seiten zu kreieren und dem Autor Tribut zu zollen.
Dementsprechend wurde das Buchcover gestaltet: In verwischten Konturen ist das Profil des Autors in Grautönen zu erkennen. Darauf thront der Titel Versflug mit Buchstaben, die von links nach rechts aufsteigen – unaufdringlich und bescheiden, etwas ver-rückt. Leider ist der Umschlag sehr empfindlich geraten: Mein Rezensionsexemplar der Softcoverausgabe verliert jetzt schon, nach wenigen Wochen, an Glanz. Der Abrieb am Einband sieht so aus, als sei ich damit sehr, sehr lange auf äußerst beschwerlichen Reisen gewesen. Da hat der Verlag offensichtlich an der falschen Stelle gespart. Für Liebhaber von Kutschs Lyrik und für bibliophile Leser im Allgemeinen empfehle ich deshalb unbedingt den Festeinband.
Aber das sind Äußerlichkeiten. Das eigentliche Interesse sollte doch dem Inhalt gelten. Der Band versammelt die ausgewählten Gedichte in sechs thematisch komponierten Kapiteln. Dazu gibt es eine kurze Bio- und Bibliographie, inklusive Portrait des Autors, einen vollständigen, etwas unübersichtlichen Quellennachweis der Gedichte und – ach nein, etwas fehlt: ein Nachwort. Üblicherweise findet man in Werkausgaben oder »ausgewählten Gedichten« ein Nachwort, das ein wenig analysierend, ein wenig honorierend ist, mit einer Prise Nähkästchenplauderei eines Autorenkollegen, eines Lektors oder langjährigen Freundes. Ich persönlich halte diese Gepflogenheit für durchaus sinnvoll, unterhaltsam und lehrreich. Dieser eigentliche Bedarf eines Nachwortes war dem Verlag offenbar bewusst, denn er liefert als Alternative statt eines Nachwortes eine (sehr) kurze Presseschau. Das ist schon nicht ganz irrelevant, ist aber unzureichend für Kutschs stilsicheres, wortgewandtes, heiteres, wie ernstes und kritisches Œuvre.
Womit wir zum Kernstück eines jeden Gedichtbandes kämen: den Gedichten! In diesen vielen Jahren des Schreibens findet ein Dichter mannigfaltige Themen, die er in seiner Lyrik verarbeitet. Dennoch gibt es bei Kutsch, wie bei vielen Poeten, einen Themenkomplex, der besondere Aufmerksamkeit genießt. Im Versflug scheint er deutlich auf: Es geht um das Schreiben und Dichten selbst. Zu Beginn gibt Kutsch erst einmal eine Anleitung zum Lesen von Gedichten: Man liest sie »am besten so, / Nein, nicht so, sondern so.« Die Speerspitze gegen belehrende Interpretationsanweisungen darf dabei, trotz des Witzes, nicht überlesen werden. Darauf folgen vielfältige Gedichte über das Schreiben und Lesen von Poesie. Auch künstlerische Sinnkrisen thematisiert er und spart auch nicht an Spott und Hohn: über sich, über andere, über die Literaturgeschichte und bekannte Formen wie das Sonett und allgemein über das ganze Konzept der Lyrik und deren Branche drum herum. Er räumt auch auf: Das Klischee des Dichters, der an der Welt leidet, wird beispielsweise etwas gerade gerückt: »bis er Preis um Preis erhält.« Bösartig sind die Gedichte dabei selten. Eher humorvoll neckend, dabei immer – wie schon erwähnt – sehr stilsicher und wortgewandt. Man hat stets das Gefühl, dass jedes Wort dort sitzt, wo es sein soll, ganz ohne sprachliche Unsicherheiten, die sich manch anderer Zeitgenosse leistet, wenn er Gedichte schreibt, die sich reimen und einen durchgehenden Rhythmus haben sollen.
Alles wirkt rundum sehr natürlich, selbst die eingestreuten Formexperimente. Manchmal darf es dann auch etwas derber werden: In einer Umdichtung von Theodor Fontanes »Herr Ribbeck auf Ribbeck im Havelland« bietet Herr Ribbeck in gewohnter Manier einem jungen Mädchen eine Birne aus seinem Garten an. Die knappe Antwort des jungen Mädchens verrate ich an dieser Stelle nicht, aber sie trifft den Leser hart und endet unter Garantie in Gelächter!
Nun spielt auch Ikarus eine Rolle auf diesem Versflug: Im Kapitel »Schönen Gruß von Ikarus« wird berichtet, dass Ikarus keinerlei Lust mehr verspürt zu fliegen, denn dann müsse er auch ständig fallen und deshalb fahre er lieber mit dem Omnibus. Das Bild vom zurückhaltenden Ikarus, der freilich nach der Sonne greifen könnte, es aber nicht tut – sei es aus Angst, sei es aus Bescheidenheit – baut sich nach drei Kapiteln der Meta-Dichtung, also dem Dichten übers Dichten, vor dem inneren Auge des Lesers machtvoll auf. Fast könnte der Eindruck entstehen, dass Ikarus Lustlosigkeit vorgeworfen wird. Dem nimmt »Herr K.« allerdings mehrfach den Wind aus den Segeln und verkauft beispielsweise im Gedicht »Ein Pfund Sinn« Tiefe, Sinn und Dunkel schön abgepackt in Tüten für alle leidenden Leserinnen und Leser.
Aber Herr K. kann auch anders! In den letzten zwei Kapiteln wird nicht weniger elegant, aber etwas ernster und bissiger, die Zeit- und Gesellschaftskritik angepackt. Die Gedichte scheuen sich vor keinem Thema und nehmen dabei kein Blatt vor den Mund. Unverkennbar zynisch geht es um die »Wiederbelebung« der Hersteller von Judensternen in zeitgenössischem Kontext und Sightseeing in ehemaligen Konzentrationslagern, um heutige Heldenmythen und Kriegeslust, um Pop-Kultur und Big Macs. Hier finden sich sicherlich mehr als nur ein Pfund Sinn und echte Juwelen des dichterischen Kritikvermögens.
Rundum ist in dieser Sammlung jedes Gedicht lesenswert und die Auswahl sehr gut gelungen. Aus der kompositorischen Anordnung der Kapitel allerdings hätte deutlich mehr herausgeholt werden können. Die Metadichtung überwiegt stark, was bei themenzentrierten Kapiteln dazu führt, dass Gedichte aufeinander folgen, die einander zu sehr ähneln. Das raubt dem ein oder anderen lyrischen Text definitiv das verdiente Rampenlicht und könnte manche Leser ermüden. Ein anderes Kompositionsprinzip wäre möglicherweise fruchtbarer gewesen. Und, um den Kreis dieser Rezension zu schließen, flatterten mir just, während des Blätterns, auf den letzten Zeilen meiner Reise mit dem Versflug, zwei herausgelöste Seiten der Volksausgabe entgegen. Deshalb noch einmal mein Appell: Greift zum Hardcover, dann könnt ihr den Flug ohne Absturzgefahr genießen!
Axel Kutsch
Versflug. Ausgewählte Gedichte 1974 bis 2015
Verlag Ralf Liebe, Weilerswist 2015
Softcover oder Hardcover, 175 S.
€ 15,- (D, Volksausgabe) oder € 30,- (D, Vorzugsausgabe)
»Versflug. Ausgewählte Gedichte 1974 bis 2015« beim Verlag Ralf Liebe kaufen