Literatur ist vergänglich, auch wenn sie sich, wie jede Kunst, gegen ihre Vergänglichkeit zur Wehr setzt. Trotzdem entschwinden Bücher in Archivbibliotheken. Auf einmal gehören sie nicht mehr zu unserem Erfahrungshorizont. Erich Jooß stellt an jedem 15. des Monats vergessene Lyrikveröffentlichungen in seiner Rubrik »Wiedergelesen« vor, die bewusst unsystematisch angelegt ist. Entdeckerfreude und persönliche Vorlieben sind ihm als Kolumnist von DAS GEDICHT blog wichtiger als literaturhistorische Zensuren.
Ich gestehe, dass ich vor dickleibigen Büchern eher zurückschrecke. Deshalb stand der mehr als 500 Seiten starke Band »ein lilienweißer brief aus lincolnshire« trotz seines verlockenden Titels längere Zeit ungelesen im Regal. 1969 bei Suhrkamp erschienen, versammelt er Gedichte von H. C. Artmann aus 21 Jahren und ist so etwas wie ein poetisches Bergwerk mit vielen blinden Stollen, aber auch ein Zauberbuch, voll von irrwitzigen Bildern: »jetzt steigen sie aus ihren betten die hirsche / jeder trägt ein stück morgen in den augen«. Inzwischen habe ich in dem Band in immer neuen Anläufen gelesen und bin jedes Mal kopfschüttelnd bei dem Nachwort von Gerald Bisinger gelandet. Offenbar ist Artmann mit seinen Versen genialisch unbekümmert umgegangen und verstreute sie wahllos in der Welt: Das Dichten war ihm wichtiger als das Aufbewahren, das Jetzt wichtiger als die literarische Reanimation in einem Museum der Erinnerung.
Vor kurzem machte mich ein Passauer Antiquar auf das Buch »gedichte von der wollust des dichtens in worte gefasst von H. C. Artmann« aufmerksam. 1969 im Salzburger Residenz Verlag herausgekommen, enthält es Reisegedichte, alphabetisch geordnet nach den imaginierten Orten, von »aranjuez« bis »wien alt« und »wien ost«. Das letzte Gedicht gilt dann einem ungenannten »zielort«, der aber schon wieder den Anfang einer neuen Reise markieren könnte. Obwohl Artmann zeitlebens ein Reisesüchtiger gewesen ist, verdankt sich dieser poetische Atlas weniger konkreten Eindrücken, sondern den Wachträumen des Autors. Manches wird trotzdem sehr realistisch beschrieben, beispielsweise in dem für Artmann überraschend nüchternen Notat zu Berlin: »ich habe mir wie das so kommt / eben ein kenzo-sakko gekauft / ich sehe in dunkles und freue / mich nicht auf den winter«. Ganz anders liest sich das »sevilla« gewidmete Gedicht, eine surreal hochgestimmte Satire auf die Theaterkulisse der Stadt: »ihr miederengel der fabrik / ach ihr brünetten zigarren / seht! bizets ganghoferbart / sträubt sich zum operntext / ein fremdling so ein narwal / er hier in fächern strandet«.
Bei Artmann wird, auch in diesem Fernwehbuch, alles zum Spiel, zu jenem »freundlichsten anarchismus«, den einmal Alfred Kolleritsch an dem Wiener Poeten gerühmt hat. Selbst einen Geburtsort erfand Artmann für sich: Sankt Achaz im Walde von Österreich. Dem »schwindler aus überschwang« geriet die Welt zum Steinbruch seiner Phantasie. Deshalb kann er auch in diesem Buch von sich behaupten »ich bin der ort nirgendwo« und die fernsten, fremdesten Landschaften und Städte mit seinen unerhörten Erfindungen bevölkern. »viele flugstunden / vor meiner geburt / gab es stonehenge« – der Dreizeiler könnte ein (Verständnis-)Schlüssel zum Werk von H. C. Artmann sein. Aber wer sucht, findet in seinen Büchern viele Schlüssel und nicht allen dürfen die Leser trauen … Lieber sollten sie sich dem chaotischen Fluss der Assoziationen überlassen und das Bilderstakkato staunend genießen.
»Wiedergelesen« wird Ihnen von Erich Jooß präsentiert. Der Schriftsteller aus Höhenkirchen veröffentlicht neben eigenen Lyrikbänden auch Lyrikanthologien, Bilderbücher und Erzählbände. Jooß ist Vorsitzender des Medienrats in Bayern und Vizepräsident der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur. Zuletzt erschien von ihm »Am Ende der sichtbaren Welt« (Verlag St. Michaelsbund, München 2011). Alle bereits erschienenen Folgen von »Wiedergelesen« finden Sie hier.