Ein Mann von sechzig Jahren: Matthias Polityckis neuer Gedichtband »Dies irre Geglitzer in deinem Blick«

rezensiert von Hellmuth Opitz

»Ach, diese Lyriker, man sollte ihnen einen Roman gönnen,« dieser selbstironische Stoßseufzer wird dem Dichter Paul Celan zugeschrieben. Ein Statement, das einen erhellenden Blick auf die unterschiedliche Rezeption von Romanen und Gedichten wirft. Im Literaturbetrieb wird die Lyrik zwar gern als Königsdisziplin hochgehalten, aber im Stillen doch als ein etwas abseitiges Hobby betrachtet, sozusagen als Lepidopterologie (Schmetterlingsforschung) unter den belletristischen Künsten. Erst mit dem Schreiben eines (möglichst erfolgreichen) Romans erlangt man im Betrieb seine volle literarische Satisfaktionsfähigkeit. Zugegeben, viele Lyriker können gar nicht auf Langstrecke schreiben, zu sehr kontrollieren sie jeden Satz, überfrachten ihn mit Bildern, jegliche Sprachökonomie scheint ihnen zu fehlen. Matthias Politycki hat dieses Problem nicht. Sein Ruf als Romancier überstrahlt dank solcher Bestseller wie »Weiberroman« und »Ein Mann von vierzig Jahren« sowie ambitionierten Werken wie »Herr der Hörner« und »Samarkand, Samarkand« scheinbar sein lyrisches Renommee, ja, vielen Kritikern scheint überhaupt entfallen zu sein, dass Politycki einmal als Lyriker angefangen hat. Dabei veröffentlicht er ca. alle sechs Jahre veritable Gedichtbände, die von mal zu mal mehr poetischen Stoff transportieren. 77 Gedichte enthielt der Band »Ratschlag zum Verzehr der Seidenraupe« (2003), schon 99 Gedichte waren es bei »Die Sekunden danach« (2009) und beim jetzt vorliegenden neuen Band sind es gleich 111 Gedichte. »Dies irre Geglitzer in deinem Blick« ist also Polityckis bislang umfangreichster Band – und gehaltvoll ist er obendrein, um das gleich vorwegzunehmen.

Wer Polityckis lyrisches Werk kennt und schätzt, wird auch hier die bewährten Zutaten wiederfinden. Zum Beispiel die weltläufige Gelassenheit eines Weitgereisten, den keine noch so fremd anmutende Landessitte aus der Fassung bringen kann, den feinen Beobachter rätselhafter Alltagsphänomene, die er präzise ausjustiert, den souveränen Regisseur, der sein lyrisches Ich mit multiplen Persönlichkeiten ausstattet, die man schon aus Romanen und vorangegangenen Gedichtbänden kennt: Rudi Schachtlmacher, Gregor Schattschneider, Professor Blohm und Dr. Daxenberger ermöglichen es Politycki, in unterschiedlichste Rollen zu schlüpfen und damit heterogene Stile glaubwürdig in einem Band zu versammeln, ohne das Konzept zu sehr zu strapazieren. Aber es gibt auch zunehmend Gedichte, die sich in einem Themenfeld »Auf Liebe und Tod« bewegen, um es mal plakativ zu formulieren. Sie folgen damit einer Motivtradition, die Politycki schon in früheren, sehr markanten Gedichten wie »Schrecklich schöner Tag« und »Sonntagsnachmittagserklärung« aufgegriffen hat: Die Liebe im Bewusstsein der Endlichkeit – der eigenen und der des geliebten Gegenübers. Im Unterschied zu früheren Bänden ist allerdings festzustellen, dass der Melancholie-Anteil aktuell deutlich zugenommen hat, nehmen wir nur einmal das Gedicht »Augenmerk«: »Du siehst mich nicht mehr so an/ wie früher. Die Stürme all unsrer Tage/ sind über dein Gesicht gegangen,/ haben hauchdünn nicht mehr als/ ein blattgoldnes Lächeln/ darauf hinterlassen.// Das ist immer noch schöner,/ als jede Windstille sonst in der Welt.// Ich weiß, du liebst mich noch immer./ Doch der Kummer, den ich dir mache, ist,/ deutlich zu sehen, ist größer bereits als das Glück./ Du liebst, doch der Zeitpunkt, da du’s/ nicht mehr tun wirst, ist ein Stück/ näher gerückt.//« Einstweilen bietet noch der Vers »Das ist immer noch schöner/als jede Windstille sonst in der Welt« einen gewissen Trost, er ist das emotionale Scharnier des Gedichts, doch die Zeichen sind unverkennbar. In klarer, bewusst einfacher Sprache, doch rhythmisch sehr fein gearbeitet, porträtiert dieses Gedicht das Gesicht als Seismograph einer immer weniger Ausschläge verzeichnenden Liebe und kündigt so eine Wende bzw. ein Ende an. Apropos Ende: Das Gedicht befindet sich in einem Kapitel mit dem vielsagenden Titel »Freund Hein. Und andere Gefährten.« Genau darum geht es in diesem 13 Gedichte umfassenden Zyklus: ums Fazit, um letzte Dinge, natürlich auch um den Tod. Der kommt in verschiedenen Gestalten daher, mal als finale »Einsicht in die (eigene) Jämmerlichkeit«, als kurz aufwallende Jahreszeit-Melancholie angesichts »des zügig verrinnenden Lebens« im Gedicht »Soundtrack des Frühlings« oder als Vorgeschmack darauf, »Wie dein Totenhemd riechen wird.« Solche Traurigkeiten zu benennen, dafür findet Matthias Politycki genau den richtigen Ton. All zu viel Lockerheit würde unglaubwürdig wirken, der Dichter ist nicht das Orchester der Titanic, das frohgemut bis zum Absaufen spielt. Aber es sollte auch nicht ins Gegenteil, in Wehleidigkeit abrutschen. Wehmut hingegen darf schon sein, sie kann – wie bei diesen Gedichten – sogar aus jedem Knopfloch pfeifen. Aber sie offenbart bei Politycki zugleich eine Haltung, die Bruce Springsteen mal in einem Song »keeping the sadness at bay« genannt hat, frei übertragen: die Traurigkeit im Zaum zu halten. Dem Pathos nicht zu viel Raum geben. Das kann durchaus anstrengend sein: »Du lächelst mich an, und/ weil ich so viel/ auf einmal nicht ertrage,/ lächle ich zurück/ in der Hoffnung, du mögest es/ für ein Lächeln halten.//« (Aus: »Im Moment«). Ein Lächeln, das um die Abgründe weiß.
Gerade in diesem poetischen Zyklus fällt auf, wie unverstellt und klar Politycki schreibt: Keine große metaphorische Kulissenschiebung, kein theoretischer Überbau, keine Einbettung in ein philosophisches Weltbild oder in den Trost des Glaubens. Wenn es kein Ausweichen gibt, wird es existentiell. Und wenn es existentiell wird, gewinnt die Sprache an Klarheit und Einfachheit. Das macht diese Gedichte so eindrucksvoll.

Zum Stil von Matthias Politycki gehört es, poetisch geglückte Bilder und Wendungen nicht nur einmal kurz aufblitzen zu lassen, sondern sie wieder zu verwenden, zu verwandeln und im Mahlstrom seiner Poesie immer mal wieder an die Oberfläche zu bringen. So gibt es etwa zum oben erwähnten früheren Gedicht »Sonntagsnachmittagserklärung« in einem späteren Band auch die Variation »Sonntagsvormittagserklärung«, auch Passagen aus »Schrecklich schöner Tag« tauchen in weiteren Gedichten mal wieder auf. In diesem Gedichtband ist es das Bild der Blasen im Bernstein, das des Öfteren verwendet wird, besonders markant in den Gedicht »Die salzige Wahrheit der Tränen«. Es schildert das Gefühl der namenlosen Traurigkeit, das den Poeten überall hin begleitet, ob er auf Reisen ist oder den Nippes auf seinem Schreibtisch betrachtet: »Es ist immer da.« Derartige Wiederholungen inflationieren bzw. entwerten die einmal gefundenen Motive keineswegs, im Gegenteil: Sie bilden Stränge und damit stabilisierende Elemente im poetischen Kosmos von Matthias Politycki. Das gilt auch für sein schon erwähntes poetisches Personal, das in jedem Gedichtband aufs Neue eine Bühne findet. Da ist der leutselige Proll Rudi Schachtlmacher, der im Gedicht »Das Schweigen der Lämmer« seine Beobachtungen dem Leser mit umgangssprachlicher Volkstümlichkeit vor den Latz knallt. Da ist Professor Blohm, der zwischen parodierender Bildungshuberei (»Penners Nachtlied«) und prokrastiven Waschblockaden (»Duschen um Viertel nach drei«) schwankt und natürlich auch Gregor Schattschneider, der mit nüchterner Nonchalance die 49 Paar Schuhe in der »Ballade auf den Schuhschrank meiner Frau« bilanziert. Dieses Personaltableau dient indes keineswegs nur als wiederkehrendes Skurrilitätenkabinett, sondern es bereichert vielmehr die Tonalitäten und damit die Klangfarben des Bandes.

Was bleibt? In diesem Gedichtband kann man sich – wie immer bei Politycki – verlieren. Etwa in der Souveränität von Form und Sprache, die die alten Grabenkämpfe zwischen zugänglicher und hermetischer Lyrik mühelos hinwegfegt. Oder in Motivsträngen, die uns als Leser wie gute alte Bekannte begrüßen. Neu hinzugekommen ist aber – wie bereits gesagt – die Dringlichkeit der Melancholie, die Politycki als ein Mann von sechzig Jahren jetzt vielleicht deutlicher verspürt. »Nicht mit sechzig, Honey«, so lautet der schöne Titel eines Gedichtbandes von Charles Bukowski. Der lässige Gestus gegenüber dem Alter, der hier zum Ausdruck kommt, reizt natürlich auch den Melanchoholiker Politycki. Deutlich wird das in dem Gedicht »Am Ende bleibt immer der Kellner« (auch dieser Titel wird in dem Band mehrfach variiert):.// »Aber du hast ja ein Ziel-/ Abwarten und Sitzenbleiben, wenn auch/ die apokalyptischen Reiter herandonnern sollten// und mitten in der Nacht/ der Jüngste Tag anbräche!/Bloß keine voreilige Bewegung // und aufbrechen, wohin/ du nicht willst / und niemand dich ruft.// Ein Mann so kurz vor dem Ende ist/ am besten stets mit einer Hand/ am Nachbestellen« Ja, das ist es, was Politycki vorschwebt: Angesichts der Apokalypse ruhig bleiben und mit lässiger Geste nachordern – das Gleiche noch mal, aber bitte randvoll!

Matthias Politycki: Dies irre Geglitzer in deinem BlickMatthias Politycki
Dies irre Geglitzer in deinem Blick

111 Gedichte
Hoffmann und Campe, Hamburg 2015
Softcover, 160 S.
€ 18,- (D)

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Hellmuth Opitz (Foto: Isabel Opitz)
Hellmuth Opitz (Foto: Isabel Opitz)
Hellmuth Opitz wurde 1959 in Bielefeld geboren, wo er auch heute lebt. Er gilt inzwischen als einer der besten deutschen Liebeslyriker. Nach seinen Anfängen als Rock- und Folkmusiker interviewte er für überregionale Musik-Magazine wie »Musikexpress« oder »Rolling Stone« u. a. Aerosmith, Bad Religion und Wim Wenders. Zusammen mit Matthias Politycki und Steffen Jacobs tourte er mit dem Poesieprogramm »Frauen. Naja. Schwierig«, das auch auf CD vorliegt, durch Deutschland. Bislang erschienen von ihm neun Gedichtbände, zuletzt »Die Dunkelheit knistert wie Kandis« (2011) sowie »Aufgegebene Plätze. Verlorene Posten« (Künstlerbuch, 2013).

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