Gedichte für Kinder – Folge 18: Sieben unveröffentlichte Kindergedichte von Horst Samson

Uwe-Michael Gutzschhahn präsentiert jeweils am 10. eines Monats auf DAS GEDICHT blog faszinierende Kindergedicht-Autoren mit ihren vielfältigen Spielarten der Kinderpoesie. Denn das Kindergedicht soll lebendig bleiben – damit aus jungen Gedichtlesern neugierige Erwachsene werden, die sich an die Klänge und Bilder der Poesie erinnern, statt an die Last der didaktischen Lyrikinterpretation.

 

Bevor es losgeht

In diesem Buch
steckt eine Maus!
Man kann sie rufen,
manchmal kommt sie raus,
erklärt euch alles,
klipp und klar:
Was ist, was wird,
was einmal war.
Wenn sie nicht kommt
und zu euch spricht,
dann lasst sie sein,
dann will sie nicht!
 

Räuber Habkeingeld

Mein Messer ist schon viel zu alt
und weil die Flinte nicht mehr knallt,
hab ich die Zunge umgeschnallt.

Ich bin der Räuber
Habkeingeld,
ich brauch kein Haus,
ich wohn im Zelt,
hab Luft gestohlen
in rauen Mengen,
jetzt will man mich
dafür erhängen!
Doch ehe mich
die Henker finden,
werd ich in einem
Satz verschwinden!
Dort leb ich still,
fast wie zuhaus,
und gehe nur
am Sonntag aus,
um Luft zu stehlen
für sieben Tage.
Vielleicht bessert sich
danach die Lage.
 

Liebestreff

Die Sonne trüb
wie saurer Wein,
sie kam herangeflogen,
sie gab dem Mond
ein Stelldichein
und hat ihn krumm gebogen.
 

Die Turmuhr

Es war einmal,
wann war das nur?
Ich glaub, der Wind
sah auf die Uhr
am Kirchturm da,
in unsrer Stadt
und sah nur Rost
als Zifferblatt.
 

Wie geht’s dem König?

Der dicke König
Edelwichs
regierte im Reiche
Essigstein
zufrieden, denn
ihn plagte nichts
als eine Krampfader
am Bein.
 

Der Wal ohne Wahl

Ein Finnwal lebte
seit vielen Jahren
sehr weit draußen
im offenen Meer
und ist damit
ganz gut gefahren:
musste nie zum Militär,
noch in die Partei,
war sozusagen fischfrei,
brauchte weder Geld,
noch Angelschein,
sondern genoss die Welt,
und war lupenrein
sein eigener Held.

Von Grenzen, das wäre
noch zu ergänzen,
hatte er nie gehört.
Wenn er aber betört
vor Spaß und pudelnass
wie ein Kind
durch die Fluten tollte,
die Flosse im Wind,
war ihm die Welt egal.
In einem Wort: Er lebte,
wie er wollte und nur selten,
wie er sollte! Er schlief nur halb,
wenn er mal schlief,
tauchte spielend 200 Meter tief
oder pfiff im gottverlassenen Meer
einem jungen Dampfer hinterher.

Oft schwamm er, wie gewohnt,
noch nachts um drei
an einem hellen Stern vorbei!
Badete tagelang allein
auf weiter Wasserflur,
sah selten nur auf seine Rolex-Uhr,
wie spät es war im Jahr.
Und was kümmerte ihn
die Stadt Berlin
oder jene Wolke gar
am Ende Europas, bei Gibraltar,
die dunkler schon als dunkel war!
So verkannte er die Gefahr,
den Meister Tod im Walfängerboot.
Darauf verschwand er ohne Spur,
mitsamt der schönen Rolex-Uhr.
 

Der Herbst kommt über uns

Auf leisen Sohlen
schleichen Wind
und Herbst heran
wie Katzen.
Die Felder, die
sind schlecht rasiert,
die Bäume tragen
Glatzen.

Der Nebel verschluckt
die halbe Welt
und wird doch
niemals platzen,
die Sonne schweigt,
ihr Mund ist still,
es tschilpen nur
die Spatzen.
 

© Horst Samson

Horst Samson wurde in dem Dorf Salcimi in Rumänien geboren und arbeitete dort als Lehrer, Journalist und Schriftsteller. Er war u. a. Redakteur der Zeitschrift des Rumänischen Schriftstellerverbandes »Neue Literatur« in Bukarest. 1985 erhielt er Veröffentlichungsverbot und 1986 wurde ihm vom Staatssicherheitsdienst Securitate mit Mord gedroht. 1987 wanderte er schließlich in die Bundesrepublik Deutschland aus und lebt heute in Neuberg bei Frankfurt. Insgesamt hat er bis jetzt zehn Gedichtbücher veröffentlicht, zuletzt den Band »Das Imaginäre und unsere Anwesenheit darin« (Pop Verlag, Ludwigsburg, 2014). Schon in Rumänien schrieb er, aufgefordert durch einen Kollegen und Lektor im Bukarester Kinderbuchverlag Ion Creanga, auch Gedichte für Kinder, deren Veröffentlichung aber immer wieder durch die Zensurbehörden verhindert wurde. Leider sind auch hierzulande seine Kindergedichte bis heute nur in Zeitschriften und Anthologien zu finden.

Uwe-Michael Gutzschhahn. Foto: Volker Derlath
Uwe-Michael Gutzschhahn. Foto: Volker Derlath

Uwe-Michael Gutzschhahn, Jg. 1952, lebt in München und hat an der Universität Bochum über den Lyriker Christoph Meckel promoviert. Seit 1978 hat er zahlreiche eigene Gedichtbände veröffentlicht, u. a. »Fahrradklingel« (1979), »Das Leichtsein verlieren« (1982) und »Der Alltag des Fortschritts« (1996). Zwischen 1988 und 1991 gab er die 12-bändige Kinder-Taschenbuchreihe »RTB Gedichte« mit Texten u. a. von Ernst Jandl, Oskar Pastior, Friederike Mayröcker und Sarah Kirsch heraus. 2003 folgte die Anthologie »Ich liebe dich wie Apfelmus«, die er mit Amelie Fried zusammenstellte und die gerade in einer Neuausgabe wiederaufgelegt wurde. Sein erster eigener Kindergedichtband folgte 2012 unter dem Titel »Unsinn lässt grüßen«. Und im Herbst 2015 erschien seine große Nonsenslyrik-Anthologie »Ununterbrochen schwimmt im Meer der Hinundhering hin und her.«

Alle bereits erschienenen Folgen von »Gedichte für Kinder« finden Sie hier.

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