Gedichte für Kinder – Folge 26: Sechs unveröffentlichte Kindergedichte von Gerhard Rühm

Uwe-Michael Gutzschhahn präsentiert jeweils am 10. eines Monats auf DAS GEDICHT blog faszinierende Kindergedicht-Autoren mit ihren vielfältigen Spielarten der Kinderpoesie. Denn das Kindergedicht soll lebendig bleiben – damit aus jungen Gedichtlesern neugierige Erwachsene werden, die sich an die Klänge und Bilder der Poesie erinnern, statt an die Last der didaktischen Lyrikinterpretation.

 

gesellschaft

ein löwriger löwe
ein tigernder tiger
und ein schäfliches schaf
standen am straßenrand
still und brav
sahen sich an
und waren gespannt
wie lange das jeder durchhalten kann
 

mundgerecht
ein hundgedicht

der hund hat eine schnauze.

schnauze – und was nun?
das kann es doch nicht sein,
ich denke, nein,
da muss man etwas tun!

wie gut klingt mund
zu hund,
wie widerborstig schnauze!

sie reckt sich in die quere
wie eine offne schere,
stört hässlich das gedicht –
sie reimt und reimt sich nicht.
schnauze, nichts, nur schnauze!

drum nenne man beim hund
die schnauze besser mund.

doch wie steht’s mit maul?
– reimt sich nicht auf hund.
und aus diesem grund
spricht man von nem maul
nur bei einem gaul.
einerlei –
es bleibt dabei:

am besten klingt der hund
mit mund.
 

verunglücktes abzählgedicht

eins
zwei
drei
vier
fünf
sechs
sieben
acht
neun
zehen
eine fehlt
 

unguter abzählreim

um halb zwei
wars schon drei
um halb acht
wars noch nacht
um fünf vor vier
war jemand hier
kurz nach zehn
ists dann geschehn
 

bild und nagel

das bild, das an dem nagel hängt,
mit diesem ein gespräch anfängt.
des bildes hochmut, schon abscheulich,
ist für den nagel nicht erfreulich:
»was, simpler nagel, bist du schon?«,
ertönt das bild mit frechem hohn,
»alle blicken nur auf mich,
kein einziger beachtet dich.«

»nun höre zu, was ich drauf sage:
man sieht dich nur, weil ich dich trage.
Mein starker arm ist deine stütze,
wie der haken für die mütze.
wenn ich den kopf nur etwas neige –
reiz mich nicht, dass ich dirs zeige!,
fällst du krachend aufs parkett.
da findet man dich nicht mehr nett!«

das bild besinnt sich, was ihm eigen:
nicht mehr zu reden, nur zu schweigen.
 

Balladeske

»rette sich wer kann!«
so fängt die strophe an.
da fliehen ross und reiter.
wie geht es nun weiter?

die szene zeigt sich leer,
keinen sieht man mehr.
so endet dieses lied,
weil nichts mehr geschieht.
 

© Gerhard Rühm

Gerhard Rühm studierte Klavier und Komposition an der Universität Wien. Seit den 1950er Jahren beschäftigt er sich mit der Musik der Sprache und schuf Sprechtexte fürs Theater sowie unzählige Lautgedichte und wurde für seine Arbeiten im Grenzbereich zwischen Musik, Sprache und Gestik immer wieder ausgezeichnet. Viele seiner Gedichte eignen sich ideal für Kinder, wurden jedoch, ähnlich wie bei Ernst Jandl, nicht bewusst für Kinder geschrieben. So gibt es bis heute leider auch keinen Auswahlband mit Gedichten, die sich besonders für Kinder eignen. Gerhard Rühm lebt inzwischen in Köln und erhielt die Ehrendoktorwürde der dortigen Universität.

Uwe-Michael Gutzschhahn. Foto: Volker Derlath
Uwe-Michael Gutzschhahn. Foto: Volker Derlath

Uwe-Michael Gutzschhahn, Jg. 1952, lebt in München und hat an der Universität Bochum über den Lyriker Christoph Meckel promoviert. Seit 1978 hat er zahlreiche eigene Gedichtbände veröffentlicht, u. a. »Fahrradklingel« (1979), »Das Leichtsein verlieren« (1982) und »Der Alltag des Fortschritts« (1996). Zwischen 1988 und 1991 gab er die 12-bändige Kinder-Taschenbuchreihe »RTB Gedichte« mit Texten u. a. von Ernst Jandl, Oskar Pastior, Friederike Mayröcker und Sarah Kirsch heraus. 2003 folgte die Anthologie »Ich liebe dich wie Apfelmus«, die er mit Amelie Fried zusammenstellte und die gerade in einer Neuausgabe wiederaufgelegt wurde. Sein erster eigener Kindergedichtband folgte 2012 unter dem Titel »Unsinn lässt grüßen«. Und im Herbst 2015 erschien seine große Nonsenslyrik-Anthologie »Ununterbrochen schwimmt im Meer der Hinundhering hin und her.«

Alle bereits erschienenen Folgen von »Gedichte für Kinder« finden Sie hier.

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