Eingestreute Kritik: Der grandiose Gedichtband »Fossile Infanten« von Barbara Maria Kloos

Fein wie ein Messerschnitt

 

Als ich Anfang der 1990er Jahre das erste Mal nach New York reiste und in Manhattan an der Grand Central Station ausstieg, war ich angesichts der hohen Häuser und Sehenswürdigkeiten so fasziniert wie frustriert. Ich dachte, diese Stadt packst du nicht, die hat soviel zu bieten, der kannst du nicht einfach gerecht werden. Und so ging es mir auch, als ich das erste Mal den Gedichtband „Fossile Infanten“ von Barbara Maria Kloos in den Händen hielt. Es ist ein opulenter Gedichtband, und damit ist nicht nur der Umfang von mehr als 200 Seiten gemeint, sondern auch der Themenreichtum und vor allem die Zeit, in der diese Gedichte entstanden ist. Mehr als 17 Jahre hat Barbara Maria Kloos an diesem Band gearbeitet, ohne Zweifel ihr lyrisches Hauptwerk.

Barbara Maria Kloos. Foto: privat
Barbara Maria Kloos. Foto: privat

Es ist klar, dass ein solcher Zeitraum eine große stilistische Bandbreite beinhaltet, Weiterentwicklungen, Brechungen und eine inhaltliche Vielfalt, kurz: ein Werk, dem man nicht mit einer Besprechung genügt, die man, wie ein Revolverheld der Kritik, eben mal schnell aus dem Holster gezogen hat. Und so stellt sich auch hier die Frage: Kann man einem solchen Gedichtband, in dem so viele Jahre des Erfindens, Schleifens und Feilens stecken, überhaupt gerecht werden? Wohl nicht. Vielleicht deshalb hat dieser Gedichtband mehr als ein halbes Jahr bei mir herumgelegen, immer wieder habe ich eine Besprechung aufgeschoben. Jetzt ist dieser Band vor gut einem Jahr erschienen und bislang liegt noch immer keine schlüsselfertige Rezension meinerseits vor, mea maxima culpa.
Aber was heißt schlüsselfertig? Den Schlüssel, der einem diesen Band ganz aufschließt, gibt es nicht. Man kommt sich vor, als würde man mit einem Dietrich, also einem Improvisationsinstrument der Kritik herumfummeln. Aber genug des Zauderns, man macht eine Aufgabe durch Prokrastination nur größer als sie sein müsste. Barbara Maria Kloos würde vermutlich sagen: Viel zu viel Respekt, einfach ran. Stürzen wir uns also doch lieber kopfüber in die Gedichte: In ihrem Gedicht „Haruspices“ macht sie aus einem Symbol der Einheit das Symbol einer Zwiegespaltenheit:

mein ehering
ist viel zu eng
seit ich ihn ab
nahm um zu
baden seh ich
wie schizo ein
finger sein kann
unten erdrosselt
oben nymphoman

Haruspices waren im römischen Reich Priester, die erst gegen Ende der Republik in einem Kollegium zusammengefasst wurden. Sie waren Spezialisten der Weissagung und praktizierten die Eingeweideschau. Auch Barbara Maria Kloos neigt in ihren Gedichten oft zu präzisen Wahrnehmungen körperlicher Symptome, worauf noch zu kommen ist. Diese detaillierte Wahrnehmungsschärfe zeigt sich auch in diesem im Grunde einfachen Gedicht. Die Druckstelle des Eherings am Ringfinger markiert gleichsam die Grenze zwischen Opfer und aktivem Part einer langjährigen Ehe, die hier eher nach amour fou klingt. In welcher lapidaren Kürze die Dichterin diese doch recht komplexe Dualität einfängt, ist schon bemerkenswert.
Der Gedichtband ist auch in seiner Komposition scheinbar stringent durchgestaltet: Er enthält 7 Kapitel, die wohlweislich nur mit den fortlaufenden römischen Ziffern betitelt sind. Will man unbedingt eine thematische Staffelung dort hineinlesen, so könnte man sagen: In Kapitel I sind Kindheitserinnerungen versammelt, in Kapitel II Themen wie Alter, Tod, Verfall. Aber man merkt schon bei der Aufzählung: Wie müßig ist dieses Herunterbuchstabieren! Die Kapitel sind eher wie Magnetfelder, in denen sich bestimmte Gedichte, Blicke und Stimmungen anlagern. Ob das nun in dem Band von vornherein angelegt war oder sich durch eine erst nachträgliche Einteilung ergibt, ist völlig unerheblich. Zu Beginn begegnen wir Gedichten, die eindrucksvolle Schlaglichter und Rückblenden auf die eigene Kindheit werfen, auf die damit verbundene Furcht und die Albträume, die sich oft in Räumen entfalten, die nicht zuletzt die Angsträume der Elterngeneration sind. So auch in dem Anfangsgedicht „selbst als gebück“, in dem es u.a. heißt:

…ich liege im keller
mein schlachtfeld heißt röcheln jede nacht besuhlt
es dieses weiß klirrend weißes elternzimmer nebel
feldbett tiefkühlschrank ein atem für die tote oma
ein atem für den onkel krieg es war die große zeit
der fallerhäuschen farbpistolen mit dem neuen vw
baby bungalow gefüllte lungenkrater schamruinen
mein kleiner freund furcht heute misten wir aus…
nelken rot wie minenfeuer auf gefrorenen gardinen

„mein kleiner freund furcht“ – das erinnert an Paul Simons Anfangsvers aus dem Song „Sounds Of Silence“: „Hello darkness my old friend“, mit dem er eine wiederkehrende Depression begrüßt. Die große Kunst von Barbara Maria Kloos ist das Gegeneinanderschneiden oder besser: das Verschränken verschiedener Bildwelten und Topoi. Hier die sich entfaltende Wirtschaftswunderwelt der späten 50er Jahre, dort die Kälte, körperlicher Verfall, angstbesetzte Räume der Kindheit. Dieses Gegeneinanderschneiden erlaubt eine Verdichtung der Bilder, eine Unmittelbarkeit, die ebenso faszinieren wie schockieren kann. Dabei ist es vor allem das Physische, aus dem die Dichterin einen Großteil ihres metaphorischen Reichtums zieht, sie kümmert sich, wenn man so will, mit geradezu gynäkologischer Genauigkeit um körperliche Details, je tabubesetzter, umso besser. Wie etwa in dem Gedicht: „vor unseren hungrigen poren“:

zieht die haut
ihr kind bis zu den
ohren schneidet den überschuß
ab du gleißende tochtergeschwulst im zeit
fenster liddeckel messer gespiegelt ich bei dir
kahlgeschorene in licht und schatten glatt glatt glatt
zwei schwülste zwei narbennähte auch hier quer durchs gedicht
zieht die haut ihr kind bis zu den ohren schneidet den überschuß ab

Der hier beschriebene gewaltsame Eingriff ist in diesem Gedicht nicht nur inhaltlich, sondern auch formal spürbar, in den immer weiter sich ausdehnenden Versen, die den Überschuß bilden, in der wachsenden Geschwulst. Nach dem Abschneiden ziehen sich die Wülste, das Narbengeflecht auch formal quer durchs Gedicht. Diese Unmittelbarkeit herzustellen, ist grandiose poetische Arbeit und beschreibt zugleich den sezierenden Blick von Barbara Maria Kloos auf das körperliche Detail. „ausgeweidet – / im spreizgriff schamnäpfe der iris/“, so beginnt das Gedicht „another girl’s paradise“, in dem es sexuell explizit wird, aber allein in diesem Anfangbild steckt schon wieder die Gewalt eines operativen Eingriffs. Hoch interessant liest sich auch ein Quartett von Gedichten, die sich um den Tod des Dichters Peter Rühmkorf im Jahre 2008 drehen. Es beginnt mit dem Poem „Was ich träumte, als Peter Rühmkorf starb“, in dem es um Geishas, Vampire und Mumien geht. Das Gedicht „Trauerbacchanal für Lyngi“ beschreibt die Trauerfeier in einer Kapelle mit literarischer Prominenz „wie gebückt der Grass schon geht“, aber auch darin finden sich Anspielungen auf Rühmkorfs sexuellen Appetit „wurde draußen / ein Fenster geputzt mir war als spritzte / Samen aus jener Geisterdrüse…“ Das nächste Gedicht mit dem eindeutig-zweideutigen Titel „ich bin hart ich bin das reizamt“ beschreibt ungeniert Verdauungsprobleme des lyrischen Ichs. Das herausgedrückte Ergebnis, „zwei schwarze hoden“, wird in eine Plastiktüte verpackt, mit einem Parfum beträufelt und dann weggeworfen, „hoffend dass mein dung/…/ dein grab zum blühen bringe.“ Also ein herzhaftes „Drauf geschissen“ auf die verehrungsvolle Erinnerung.
„Roseburg“ schließlich beschreibt einen Besuch in Rühmkorfs Dichterkate in Hamburg-Oevelgönne. Aber auch hier kann es die Dichterin nicht lassen, auf Rühmkorfs Ehe und seine Vorliebe für junge Mädchen explizit hinzuweisen: „an der wand zum sichtgeschützten garten nackt / wo du vor evas augen licht getankt um als peter / pan in immerneue nymphen einzufahrn.“ Ja, das ist sicher trefflich ins Bild gefasst, aber man kann sich angesichts der Fülle sexueller Konnotationen (nicht nur in diesen vier Gedichten) schon fragen, von welchem pornokratischen Dunkel die Autorin selbst bedrängt wird. Als formulierte hier eine Klosterschülerin, deren Versuchungen und Anfechtungen ein poetisches Ventil brauchen. Doch all das mindert keinesfalls die lyrische Qualität und Souveränität dieser Gedichte, auch wenn sich sensiblere Gemüter vielleicht wünschen würden, dass nicht bei jedem körperlichen Detail die lyrische Linse unbedingt so messerscharf gestellt werden muss. Aber poetisches Pardon wird nicht gegeben, nicht von Barbara Maria Kloos – und das ist gut so. Bleibt am Ende die Frage vom Anfang, ob es dem Rezensenten gelungen ist, diesem Gedichtband in lyrikkritischer Hinsicht gerecht zu werden. Nein, keinesfalls. Hat er für diesen Anspielungsreichtum genügend Verknüpfungskompetenz mitgebracht? Natürlich nicht. Was umso mehr für die Großartigkeit dieses Bandes spricht.

Hellmuth Opitz

 

Barbara Maria Kloos, Fossile Infanten
© poetenladen Verlag

 

 

 

Barbara Maria Kloos
Fossile Infanten
Gedichte
Hardcover m. Schutzumschlag
216 Seiten, 22 Euro
ISBN 978-3-940691-85-9
Gefördert durch die Kunststiftung NRW
poetenladen Verlag, Juni 2017

 

 

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