Gedichte für Kinder – Folge 97: Acht unveröffentlichte Gedichte von Günter Ullmann aus dem Nachlass

Uwe-Michael Gutzschhahn präsentiert jeweils am 10. eines Monats auf DAS GEDICHT blog faszinierende Kindergedicht-Autoren mit ihren vielfältigen Spielarten der Kinderpoesie. Denn das Kindergedicht soll lebendig bleiben – damit aus jungen Gedichtlesern neugierige Erwachsene werden, die sich an die Klänge und Bilder der Poesie erinnern, statt an die Last der didaktischen Lyrikinterpretation.

 

kindheit

die sterne waren ganz kleine kinder
der mond war der vater
die sonne die mutter

tag und nacht
waren meine
geschwister

ich war
ein
schmetterling

die blumen hatten die namen
der vögel
die vögel die namen
der fische
die fische
die namen
der sterne

die sterne waren ganz kleine kinder
meine flügel waren
aus kometenschweif

 

 

Der Tintenfisch

Der Tintenfisch springt über die Klassenbänke
und zeichnet die saubersten Hefte mit Klecksen aus.
Das glaubt der Lehrer seinen Schülern nicht,
darum bringen Kinder manchmal eine Fünf nach Hause.

 

 

Am See

Sitz ich am See und schaue
in mein Wassergesicht,
springt mir aus dem Munde
statt einem Wort ein Fisch.

 

 

Die Fliege

Wenn die Fliege durchs Schlüsselloch fliegt,
sie nur ihre zarten Flügel verbiegt.
Sitzt sie dann auf Opas Glatze,
fängt sie der Kater mit weicher Tatze.

 

 

Regen

Regen, Regen, Wolkenstein,
lass die Funken sprühen,
klopf den Staub von jedem Kopf
und lass die Straße blühen.

Regen, Regen, Wolkenstein,
lass die Straße singen,
lass durch unsre raue Stadt
märchenbunt die Vögel schwimmen.

Regen, Regen, Wolkenstein,
lass die Nase laufen
auf die Straße durch die Stadt,
sonst muss ich noch ersaufen.

 

 

Mein Traumbaum

Heut Nacht pflanzte ich im Traum
einen wundersamen Baum.

Er wuchs, in seinen Zweigen
Bananen, Kirschen, Feigen,

Erdbeeren und Apfelsinen,
Datteln, Birnen, Mandarinen …

Viele Leute reisten an
jubelnd aus dem ganzen Land.

Doch als Melonen auf die Köpfe fielen,
zogen alle saure Mienen,

holten mich aus meinem Traum:
„Mensch, pflanz doch einen Apfelbaum!“

 

 

Drachenlied

Mein kleiner Drachen, steige
über Zaun und Haus
und führe uns
an der Leine
aus dem Häuserwald
hinaus.

Mein kleiner Drachen, schrecke
die faulen Wolken auf,
die liegen satt
in der Sonne
und zeigen uns nur
ihren Wasserbauch.

Mein kleiner Drachen, fliege
übers weite Land
und nimm uns mit
auf die Reise,
sonst zieht dir der Wind
seine Hosen an.

 

 

In einer Seifenblase

In einer Seifenblase
Spiegeln sich Haus und Hase,
Baum und Vase,
Wolke und Straße,
Sonne und deine Nase.

 

© vertreten durch Lutz Rathenow

 

 

Günter Ullmann wurde in Greiz in Thüringen geboren. Nach dem Abitur 1966 machte er, wie damals in der DDR üblich, zunächst seinen Facharbeiterbrief als Maurer. Gleichzeitig gründete er, angeregt von den Beatles, eine eigene Band, sang dort, spielte Schlagzeug und schrieb eigene Songs. Er freundete sich mit anderen Autoren der DDR an und verfasst Gedichte sowie kurze Prosa und war auch Maler. Mit seinen Texten fiel er bei den DDR-Behörden schnell in Ungnade und konnte erst nach der Wende im November 1989 die eigenen Arbeiten veröffentlichen. Ullmann schrieb sowohl für Erwachsene als auch für junge Leser und hat zwei Bände mit Kindergedichten verfasst, die unter den Titeln „Die Sonne taucht im Wassertropfen“ (1998) und „Der Tintenfisch über die Klassenbänke“ (2001) erschienen. Ullmann starb 2009 nach schwerer Krankheit im Alter von nur 62 Jahren.

 

Uwe-Michael Gutzschhahn

 

Uwe-Michael Gutzschhahn. Foto: Volker Derlath
Uwe-Michael Gutzschhahn. Foto: Volker Derlath

Uwe-Michael Gutzschhahn, Jg. 1952, lebt in München und hat an der Universität Bochum über den Lyriker Christoph Meckel promoviert. Seit 1978 hat er zahlreiche eigene Gedichtbände veröffentlicht, u. a. »Fahrradklingel« (1979), »Das Leichtsein verlieren« (1982), »Der Alltag des Fortschritts« (1996) und »Die Muße der Mäuse« (2018). Zwischen 1988 und 1991 gab er die 12-bändige Kinder-Taschenbuchreihe »RTB Gedichte« mit Texten u. a. von Ernst Jandl, Oskar Pastior, Friederike Mayröcker und Sarah Kirsch heraus. 2003 folgte die Anthologie »Ich liebe dich wie Apfelmus«, die er mit Amelie Fried zusammenstellte und die gerade in einer Neuausgabe wiederaufgelegt wurde. Sein erster eigener Kindergedichtband folgte 2012 unter dem Titel »Unsinn lässt grüßen«. Und im Herbst 2015 erschien seine große Nonsenslyrik-Anthologie »Ununterbrochen schwimmt im Meer der Hinundhering hin und her«, im Frühjahr 2018 die Anthologie »Sieben Ziegen fliegen durch die Nacht« bei dtv Junior, die aus der Reihe »Gedichte für Kinder« hervorgegangen ist.

Alle bereits erschienenen Folgen von »Gedichte für Kinder« finden Sie hier.

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