Wo auch immer der Weltreisende in Sachen Poesie” sich gerade wieder herumtreiben mag: wenn Michael Augustin ein Buchantiquariat erspäht, dann kommt er daran nicht vorbei, ohne wenigstens in haikuhafter Kürze (aber viel lieber in balladenhafter Länge) die dort erhofften mit Lyrik gefüllten Regalmeter auf Überraschendes und Wohlfeiles zu inspizieren. Vom Glück des Findens handelt seine Kolumne, in der er seine liebsten lyrischen Trouvaillen aus Läden und Bücherschuppen, von Flohmarkttischen und Straßenrändern in loser Folge am 3. eines Monats vorstellt.
Ein Antiquariat ist es eigentlich gar nicht, eher ein Fachhandel für Krimskrams, gefüllt bis unter die Decke mit Ausrangiertem aller Art: altersschwachen Möbeln, verkorksten Gemälden, Fotoalben aus den 1950ern und -60ern, Sammeltassen, Blumenvasen, Wanderstöcken und Baseballschlägern, Puppenstuben, Spielzeugschachteln, gammeligen Küchenutensilien, wackeligen Gartenmöbeln, Schreibmaschinen und muffigen Klamotten. Ein thrift shop, wie man hier sagt, ein Laden, in dem all dieses auf den Dachböden und in den Garagen Connecticuts gealterte und nun von wohltätigen Bürgern gespendete Zeugs für ein paar Dollars zu guten Zwecken verscherbelt wird.
Gelegen in der Nähe meiner Bushaltestelle downtown New Haven, ein ergötzlicher Ort, um die Wartezeit sinnvoll zu verbringen, wenn einem wieder mal der M-Bus vor der Nase davongefahren ist und der nächste erst 40 Minuten später eintrudelt. Es gibt nämlich im thrift shop auch ein paar mehr oder weniger gut gefüllte Bücherregale, wo sich schon mal der eine oder andere Gedichtband finden lässt von Walt Whitman, Emily Dickinson oder T.S. Eliot … nichts bibliophil Aufregendes, aber in der leicht angegilbten und gebundenen Ausgabe irgendwie doch attraktiver als eine druckfrische Paperbackversion. In einem dieser Bücherregale stieß ich vor drei Jahren auf die Erstausgabe des allerersten Lyrikbandes des 1902 geborenen deutschen Exilschriftstellers Hans Sahl. Die hellen Nächte – Gedichte aus Frankreich lautet der Titel dieses 74 Seiten umfassenden Büchleins, das Hans Sahl 1942 im New Yorker Barthold Fles Verlag herausbringen konnte, in deutscher Sprache wohlgemerkt und in vermutlich sehr geringer Auflage.
Eine unglaubliche Rarität, wie ich inzwischen weiß und eine, die es wirklich in sich hat. Gedichte, die von Sahls Erfahrungen in Frankreich handeln, den Exil- und Kriegsjahren, den Aufenthalten in den Internierungslagern und von der rettenden Flucht in die USA, wo er bekanntlich, von einer Unterbrechung in den 1950er Jahren abgesehen, bis 1989 geblieben ist, bevor er, wohl auf Wunsch seiner Frau, in das Land seiner Verfolger zurückkehrte. Gestorben ist er 1993 im Alter von 91 Jahren und hat es immerhin noch erleben können, dass seine Bücher hierzulande beachtet und wertgeschätzt wurden.
Sein berühmtestes Exilgedicht hat Hans Sahl 1973 geschrieben: Wir sind die Letzten, das er noch in New York für das Radio auf Band gelesen hat und das ich ungezählte Male in meinen Poesiesendungen bei Radio Bremen zu Gehör bringen konnte. Eine Aufnahme, die entstanden ist mitten in Manhattan, bei geöffnetem Fenster. Gut hörbar im Hintergrund der Straßenverkehr der Metropole: Wir sind die Letzten./ Fragt uns aus./ Wir sind zuständig. An dieses Gedicht muss ich sofort denken, als ich nun in seinem Erstling von 1942 diese Zeilen lese: Einmal wird man dich rufen, / Und du wirst sagen, was du gesehen hast. Hier formuliert er gewissermaßen sein Lebensprogramm als Zeitzeuge, dem zuzuhören ein ergreifendes Erlebnis war und dessen eindringliche Gedichte hoffentlich auch weiterhin gelesen werden.
In meinem Exemplar von Die hellen Nächte, für das ich drei Dollar zu zahlen hatte, findet sich übrigens ein handschriftlicher Eintrag der Vorbesitzerin. Die Dame an der thrift shop-Kasse hat sie noch persönlich gekannt: Charlotte Lichtblau, eine New Yorker Künstlerin. 2013 ist sie gestorben. 1940, als sie 15 war, da hat sie sich mit ihren jüdischen Eltern aus Österreich nach New York retten können. Wie der gebürtige Dresdener Hans Sahl, dessen erster Gedichtband im selben Jahr erschienen ist, aus dem ihr mit lichtblauer Tinte verfasster Eintrag stammt: Weihnachten 1942 Lotte. Habent sua fata libelli.
Der gebürtige Lübecker Michael Augustin hat in Dublin, in Kiel, auf Vancouver Island und in Carlisle, Pennsylvania, gelebt. Bei Radio Bremen hat er als Kulturredakteur ungezählte Literatursendungen über den Äther geschickt und war Leiter des internationalen Literaturfestivals „Poetry on the Road”.
Seit 2019 widmet er sich vorrangig seiner eigenen literarischen und künstlerischen Arbeit.