Das knifflige Poesiepuzzle, Folge 19: Es ist kein Trost in der Welt

Achim Raven veröffentlicht in loser Folge am 13. eines Monats Überlegungen zu Möglichkeiten und Unmöglichkeiten des Gedichteschreibens. Im ersten Beitrag geht es um den Vers, der weder Zeile noch Satz ist und in der Ambivalenz seiner Möglichkeiten höchsten Scharfsinn oder aber bodenlose Dumpfheit befördern kann.

 

Es ist kein Trost in der Welt

„Die Welt ist alles, was der Fall ist“, erklärt Ludwig Wittgenstein, also das Allgemeine schlechthin. Für solche Dimensionen aber ist der Trost viel zu klein, zu peripher und ephemer. Trost hat die Reichweite einer Armlänge und die Dauer eines Tränenflusses. Jeder Mensch kann ihn spenden und jeder kann ihn empfangen, nur eben nicht immer und überall jeder an jeden und von jedem. Trost ist nicht verallgemeinerbar, er ist intim, ein spontanes körperliches Vertrauen. Trost, wenn er gelingt, lindert den Schmerz über ein zerbrochenes Spielzeug ebenso wie über das Sterben, aber er bringt nichts zurück. Er vermittelt eine grundlose (d.h. ebenso unbegründete wie absolute) Hoffnung gegen das stumpfe Weitermachen des Faktischen. Trost schafft keine Abhilfe, aber hilft auch nicht nicht. Sonst wären Freude und Vergnügen längst vergessen, und es herrschte immer, überall und ausnahmslos die Trostlosigkeit.

Der Fall hingegen ist die unerbittliche Kausalität in der Natur, da gibt es weder Gut und Böse noch Richtig und Falsch, da herrscht unendliche Gleichgültigkeit. Die Menschen haben sich der Natur gegenüber Freiheiten ertrotzt, indem sie Richtig und Falsch unterscheiden lernten und damit Gut und Böse erfinden konnten. Auch das ist der Fall. In der Genesis wird dieser Fall Sündenfall genannt – ein allzu durchsichtiges Manöver, um einen Weltenrichter zu installieren, der unangefochten über Gut und Böse, Richtig und Falsch befindet. Dieser Weltenrichter soll auch die Befreiten vor sich selbst schützen, denn die individuelle Gewissheit über Gut und Böse erlaubt die monströsesten Machtspiele. In jedem Baumarkt sind Hämmer und Teppichmesser erhältlich, um im Namen des Guten und Richtigen Schädel zu zerschmettern und Genitalien zu verstümmeln. Leider ist der Schutz durch den Weltenrichter schwach, denn er ist selbst ein Machtspiel. Wer „Deus lo vult“ sagt, erklärt sich zum gehorsamen Knecht bzw. zur unangreifbaren Vollstreckerin des Weltenrichters und darf die Hämmer und Teppichmesser segnen. Gerechtigkeit ist ein Postulat, Selbstgerechtigkeit ein mächtiges Tool.

Natürlich darf man das alles nicht so einseitig sehen, es gibt ja auch viel Schönes, das das Leben lebenswert macht, sodass selbst Machtspiele allseitiges Vergnügen bereiten können. Z.B. Sport.

Überhaupt produziert, was der Fall ist, endlose Ambivalenzen: Da spaziert ein über beide Ohren verliebtes Nazipärchen kichernd durchs Phantasialand, da krakeelen im Stadtpark fröhlich die Halsbandsittiche, während die Spatzen langsam verschwinden, ohne dass ein ursächlicher Zusammenhang bestünde, da fordern Pazifist*innen unter dem Zwang ursächlicher Zusammenhänge den Einsatz schwerer Waffen gegen Einwegsoldaten. Die Welt ist alles, was der Fall ist, vor allem aber nicht bei Trost.

„Ja, aber die Kunst!“, wird an diesem Punkt gern eingewendet. Umso prächtiger gedeiht sie, je weniger die Welt bei Trost ist. Spätestens seit dem Dreißigjährigen Krieg ist dies offensichtlich. Und genau deswegen hat das Oberkommando der Wehrmacht ab 1941 die fronttauglichen „Münchner Lesebogen“ als leichte Lesekost für Soldaten und Rüstungsarbeiter*innen herausgegeben. Denn offenbar verabreicht das Dichterwort Tröstungen in trostloser Zeit.

Hefte der Reihe „Münchner Lesebogen“
Die Hefte der Reihe „Münchner Lesebogen“ wurden ab 1941 vom Oberkommando der Wehrmacht im Münchner Buchverlag herausgegeben (Foto: Raven)

Doch die Trostlosigkeit ist ein weites Feld und beginnt manchmal schon da, wo eine Tafel Schokolade oder das Dichterwort als Tröstung verabreicht werden. Solche Maßnahmen erweisen sich dann als das Gegenteil von Trost, sie sollen ablenken, hinwegtäuschen über das, was der Fall ist. Sie ersetzen die körperliche Intimität des Trostes durch deren Illusion. Die Betroffenen fühlen sich in den Arm genommen, sind aber bloß auf den Arm genommen: Die Intimität des Trostes macht das, was der Fall ist, für einen flüchtigen Augenblick nichtig. Die Tröstungsverabreichungen sind ein Spektakel, das für klagloses Funktionieren sorgen soll, indem die Betroffenen sich unmittelbar angesprochen fühlen ohne es zu sein.

Für die Soldaten und Rüstungsarbeiter*innen sind die Dichterworte der Münchner Lesebogen das uneingelöste Versprechen einer unmittelbaren Ansprache. Solche Präsentation von Dichterworten unterscheidet sich nicht von den Versprechen heutiger Boulevardmedien und überhaupt dem, was Georg Seeßlen und Markus Metz als „Blödmaschinen“ bezeichnen.

Was in den Büchern der Dichter*innen steht, ist also nicht zum Trost geeignet. Denn dessen Unmittelbarkeit und Einmaligkeit, die ja auch ohne elaborierte Sprache auskommt, ist nicht verallgemeinerbar. Die Künste, speziell aber die Lyrik, um die es hier ja geht, sind elaboriert und damit verallgemeinerbar. Lyrik ist Teil dessen, was der Fall ist, indem sie die Welt zur Sprache bringt, die wiederum in ihrer Elaboriertheit zur Sache kommt. Dieser Prozess ist zwar radikal subjektiv, er nährt sich aus Freude, Trauer, Liebe, Wut, aber gerade in seiner Subjektivität ist er Teil der öffentlichen Auseinandersetzungen, genau deshalb ist er erst vollständig, wenn er veröffentlicht ist. Die Subjektivität der Lyrik schafft keine Intimität, sondern offenbart die Lücken des begrifflichen und strategischen Denkens. Als Komplement ist sie Teil dessen, was der Fall ist. Aber nicht, indem sie meinungsstark mitpalavert (Lyrik wird weder bei Anne Will noch bei Markus Lanz verlesen), sondern indem sie ausgehend von der Wirklichkeit Möglichkeiten auslotet und Potenziale erprobt. Das Ausgangsmaterial der Lyrik sind Erfahrungen und das Zeichensystem der Sprache, mit denen buchstäblich alles Mögliche gemacht werden kann, deren Grenzen sogar überschritten werden müssen. Eine derart exzentrische Veranstaltung in den Nischen dessen, was der Fall ist, kann nicht bei Trost sein.

Als Beispiel dafür ein Gedicht (auch um urheberrechtliche Umständlichkeiten zu vermeiden) aus eigener Produktion. Der unmittelbare Wirklichkeitsbezug ist denkbar schlicht: Ich war vor ein paar Jahren einmal in Bad Kissingen und habe dort ein vorzügliches Zitroneneis gegessen, und als Kind musste ich, ob ich wollte oder nicht, Pudelmützen tragen. Hinzu kommen noch ein paar kulturelle Schnippel: Komödien von Blake Edwards, das Liedgut der Arbeiterbewegung, die kirchliche Liturgie, Klopstocks Frühlingsfeier, Kim Basinger und Klaus Maria Brandauer in „Sag niemals nie“.

 

Zum guten Schluss

Fröhlicher Tumult und Jubelschreie
Bei den Sonnenliegen sind sie alle
Total aus dem Häuschen
Rosarote Panzer brechen durch
Den Maschendraht ins Freibad
Prustend und quietschend belegt die pinke Division
Das Schwimmer mit Arschbombenteppichen

Bloß keine letzten Gefechte jetze
Würden die letzten die ersten doch sein
Und Sonn ohn Unterlass mal gar nicht
Verwaiste Sonnenliegen
Versteppung Verwüstung
Am Ende käm bloß Asche zu sich selbst
Und Staub erst recht

Besser durchströmen Gewitterwinde
Mit lauter Woge den Wald
Und es rauscht es rauscht
Himmel und Erde vom Regen
Bis über stillem Säuseln
Der Bogen des Friedens sich neigt

Die meisten Namen
Bleiben bei ihren Dingen
Der Drehmomentschlüssel
Die Plümmelmütze
Das Freundschaftsspiel
Schluss aber mit den schlechten Küssen
Nie mehr zähe Spuckefäden
Bad Kissingen can possibly be renamed
Und dann Zitroneneis für alle
Dafür braucht‘s gar keine pinke Division

 

© Achim Raven

 

Achim Raven
Achim Raven (Foto: privat)
Achim Raven, geboren 1952 in Düsseldorf, hat von 1984 bis 2015 unter dem Pseudonym Ferdinand Scholz einige Bücher mit Lyrik und Prosa veröffentlicht.
Seither veröffentlicht er unter seinem richtigen Namen, zuletzt: Der Ernst des Unernstes kommt vom Unernst des Ernstes, Düsseldorf 2022, edition virgines. Er hat 40 Jahre an Gymnasien Deutsch, Philosophie und Kunst unterrichtet und 10 Jahre literarisches Schreiben an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf.

Ein Kommentar

  1. Ja, es ist “kein Trost in der Welt”, aber die Weltbewohner*innen gieren danach (berechtigt) und er muss entgegen A. Ravens Ansicht auch nicht immer nur flüchtig sein und kann auch anders als durch körperlichen Trost erzeugt werden.

    “Bei den Sonnenliegen sind sie [zwar] alle total aus dem Häuschen”, weil die Sonne Trost spendet und die Lebensgeister weckt, besonders aber wenn die “rosaroten Panzer”, kurz die “pinke Division” mit ihren “Arschbombenteppichen” im “Schwimmer” ein Spektakel inszenieren, das den Ausbruch aus der Trostlosigkeit real erscheinen lässt.

    Der rosarote Panther, https://de.wikipedia.org/wiki/Der_rosarote_Panther_(1963), den Raven in seinem Gedicht zum Panzer mutieren lässt, der exakt das Gegenteil von Trost bringe, nämlich “Versteppung” und “Verwüstung”, wird von Raven mit “Gewitterwinde[n]” und “Regen” konfrontiert, die, so seine Hoffnung, gegen die “Verwüstung” den “Bogen des Friedens” über das wieder fruchtbare Land spannen können. “Zitroneneis für alle” ist dann in der letzten Strophe der verzweifelt-hoffnungsvolle Kontrapunkt, den Raven gegen die strukturell bedingte Menschenfeindlichkeit setzt und der angeblich jede “pinke Division” überflüssig mache.

    “Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch” (Adorno) möchte ich A. Raven nicht als Argument entgegenhalten (zumal sein Gedicht wahrscheinlich vor Beginn des Russland-Ukraine-Krieges geschrieben wurde), weil das, was zur Zeit im Krieg in der Ukraine oder z.B. im Jemen stattfindet, die Dimensionen des Nazi-Vernichtungskrieges einschließlich der systematischen Vernichtung von Juden, Kommunisten, Sozialdemokraten, Sinti und Roma, Homosexuellen und Behinderten auch nicht annähernd erreicht. Dennoch möchte ich darauf hinweisen, dass unter obwaltenden Weltbedingungen die Zeit für Lyrik nicht ganz, aber doch tendenziell stillgelegt sein könnte. Wie fragil aber auch solche Argumentation ist verrät bereits an dieser Stelle meine Wortwahl, denn eine Stilllegung kann logisch nicht tendenziell sein, sondern nur absolut, sonst ist es nicht still.

    Wende ich mich den vor dem Gedicht erläuternden Darlegungen von A. Raven zu, bleibt meine Perspektive selbstverständlich kritisch, findet aber kaum so scharfe Kritikpunkte wie die am Gedicht. Kernaussage in den einleitenden Bemerkungen ist meiner Auffassung nach folgende:
    “Doch die Trostlosigkeit ist ein weites Feld und beginnt manchmal schon da, wo eine Tafel Schokolade oder das Dichterwort als Tröstung verabreicht werden. Solche Maßnahmen erweisen sich dann als das Gegenteil von Trost, sie sollen ablenken, hinwegtäuschen über das, was der Fall ist. Sie ersetzen die körperliche Intimität des Trostes durch deren Illusion. Die Betroffenen fühlen sich in den Arm genommen, sind aber bloß auf den Arm genommen: Die Intimität des Trostes macht das, was der Fall ist, für einen flüchtigen Augenblick nichtig. Die Tröstungsverabreichungen sind ein Spektakel, das für klagloses Funktionieren sorgen soll, indem die Betroffenen sich unmittelbar angesprochen fühlen ohne es zu sein.”

    Richtig ist daran erst einmal, dass “Tröstung” nicht selten exakt das Gegenteil von realem Trost ist, weil “Tröstung” bereits die Interessen der Tröstenden enthält, die gänzlich andere Interessen verfolgen können oder müssen als diejenigen, die des Trostes bedürfen. Richtig ist auch die sprachlich wie inhaltlich treffende Sequenz, in der “in den Arm genommen” kritisch-satirisch als “auf den Arm genommen” gewendet wird, allerdings mit der oben beschriebenen Verkürzung auf “körperliche Intimität”, die A. Raven als die fälschlicherweise einzige Möglichkeit von Trost erscheint. Richtig ist aber auch wieder die Konklusion seiner Argumentation, dass nämlich die “Tröstungsverabreichungen” für “klagloses Funktionieren” der angeblich Getrösteten sorgen soll.

    Bezieht man die Diagnose von A. Raven, es gebe keinen Trost in dieser Welt, die mMn im Kern richtig ist (auch wenn nicht auf “körperliche Intimität” reduziert), speziell auf die aktuelle Lage, v.a. Dingen auf den Russland-Ukraine-Krieg, dann ist diese Aussage vorläufig in besonderer Weise richtig (man könnte auch sagen, sie ist wahr, aber das traut sich kaum noch einer zu sagen). Nur, leider bietet A. Raven bis auf seine Naturmetaphorik, Gewitter und Regen, bei der ich mich frage, von wem oder wodurch A. Raven Gewitter und Regen erwartet/erhofft, keinerlei Perspektive. Nun könnte es aber auch so sein, dass es keine Perspektive mehr gibt außer einer zufälligen oder durch materielle und ideelle Erschöpfung hervorgerufenen auf der Basis des irrationalen Selbstzwecks des Kapitals und der diesen Selbstzweck ebenso irrational exekutierenden Staaten. Das aber will A. Raven nicht akzeptieren, sonst hätte er nicht als heimtückischer Dialektiker, der er ist, “Zitroneneis für alle” gegen die “pinke Division” gefordert. Und da bin ich, trotz oder wegen (?) meiner Kritik wieder bei ihm.

    Zusatzbemerkung 1: Meine vorgetragene Kritik ist in dieser Form und diesem Inhalt nur möglich, weil ich von der Kritikwürdigkeit A. Ravens weiß. Diese Bemerkung ist fundamental wichtig, weil dies in der gegenwärtigen Ödnis journalistischer und politischer Debatte*, sofern man es überhaupt noch Debatte nennen kann, bemerkenswert ist.

    Zusatzbemerkung 2: Falls ich das Gedicht wieder auf falscher Ebene kritisiert haben sollte, nämlich auf inhaltlicher, oder gar erneut, wie schon einmal hier, kriminalistisch vorgegangen sein sollte, bitte ich, mich darauf hinzuweisen.

    *Abschlussfrage: Gibt es eine literarische oder allgemein kulturelle Debatte, die nicht an “Versteppung” und “Verwüstung” leidet? Mir fehlt da der Überblick.

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