Achim Raven veröffentlicht in loser Folge am 13. eines Monats Überlegungen zu Möglichkeiten und Unmöglichkeiten des Gedichteschreibens. Im ersten Beitrag geht es um den Vers, der weder Zeile noch Satz ist und in der Ambivalenz seiner Möglichkeiten höchsten Scharfsinn oder aber bodenlose Dumpfheit befördern kann.
Poetisches Vermögen
[…] der wald
gräbt die tierschädel ein. Ich denke ans sterben
und sehe das leben, wie es luftschlingen legt und mich
näher an sich heranzieht, […]
(Andreas Altmann, zwei leben, DAS GEDICHT 27, S. 13)
Da wächst zusammen, was nicht zusammengehört, um sich als zusammengehörig zu erweisen:
Ein Wald gräbt, ein Abstraktum wird vom Sehsinn erfasst und übt lassoartig Zugzwang aus. Und je genauer man hinliest, desto mehr Rätsel offenbaren sich:
Was ist mit dem Rest der Tierskelette? Dann: sterben als Gedanke, leben als Erlebnis, eine süffige Antithese, die bei den benennenden Verben leben und sterben funktioniert, nicht aber bei den substantivischen Begriffen Leben und Sterben, denn da wäre das Gegenteil vom Leben der Tod, das Gegenteil vom Sterben wäre das Geborenwerden, es sei denn das Sterben beginnt mit der Geburt: Begriffszauber – Bezeichnung und Begriff verschwimmen ineinander, das poetische Vermögen setzt sich nonchalant über schulmäßige Unterscheidungen hinweg. Und schließlich noch die rätselhaften luftschlingen, die der Duden nicht kennt, durchaus aber diverse Häkelanleitungen, wohl als Synonym für Luftmaschen. In Altmanns Versen schafft das poetische Vermögen ein Bild, wie das Leben uns in den Bann schlägt, indem es Fallen stellt und zugleich uns umgarnt, wenn nicht umhäkelt, und zwar mit Luft, pneumatisch. Ist am Ende das Hagion Pneuma im Spiel, der Heilige Hauch bzw. der Heilige Geist? Wer weiß? Man kann nie wissen. Und nicht einmal das ist sicher.
Das poetische Vermögen schafft Gebilde, die fraglos in doppelter Hinsicht sind. Sie stellen keine Fragen und reagieren nicht auf gestellte Fragen, schon gar nicht auf Sinnfragen.
Das poetische Vermögen schafft Irritation, selbst da, wo seine Produkte uns in Sicherheit wiegen. Ein sehr berühmtes Beispiel:
[…]
Weh mir, wo nehm ich, wenn
Es Winter ist, die Blumen, und wo
Den Sonnenschein,
Und Schatten der Erde?
[…]
(Hölderlin, Hälfte des Lebens)
Klar: Thema Midlife-Crisis. Aber der eindrucksvolle Klang der Klage WEHMIRwonehmichWENN lässt das Thematische hinter sich und zeigt damit, dass das bloße Thema besser in Ratgeberbüchern aufgehoben ist. Und die Engführung von Sonnenschein Und Schatten der Erde hintertreibt das Tralala einer platten Gegenüberstellung von düsterem Winter und sonnigem Sommer. – Und wofür steht dieses Es, das ja syntaktisch gar nicht nötig ist? Da ist, wer das Gedicht liest, ganz auf sich gestellt. Bestenfalls hilft das vertrauensvolle Gespräch mit anderen Irritierten.
Was ist dieses seltsame poetische Vermögen?
Wie viele Vermögen, ist es ein geerbtes. Diese Erbschaft besteht nicht aus Immobilien, Aktien oder ideellen Werten. Sie ist ein Atavismus wie etwa die Kampf-oder-Flucht-Reaktion unter Stress. Das poetische Vermögen zwingt uns jedoch nicht, bei Verlust der Selbstbeherrschung panisch zuzuschlagen oder abzuhauen. Es zwingt uns, Zusammenhänge zu sehen, wo keine sind. Es ist verwandt mit der Pareidolie, dem Phänomen, sowohl in einer Zufallsstruktur Bekanntes wiederzuerkennen, als auch Bekanntes in einer Zufallsstruktur gezielt zu suchen. Grundlegend dafür ist die Fähigkeit zum Vergleich.
Alles lässt sich mit allem vergleichen, auch die sprichwörtlichen Äpfel mit den sprichwörtlichen Birnen, denn irgendein tertium comparationis findet sich immer, z. B. der Zuckergehalt oder die Preise im Einzelhandel. Von daher ist das Vergleichen eine ebenso wohlfeile wie beliebige Angelegenheit. Das Alltagsbewusstsein (nicht: das Gehirn) vergleicht prinzipiell neue Eindrücke mit vorhandenem Gedächtnismaterial. Das tertium ist in diesem Falle gleichzeitig auch die eine Seite des Vergleichs: das Bekannte. Dieses etwas holprige analogische Verfahren, über Ähnlichkeiten Zusammenhänge herzustellen, funktioniert ganz gut, wir lernen vor allem im Kindesalter sehr schnell und sehr viel damit. Je mehr Erfahrung zur Verfügung steht, desto besser lassen sich unbekannte Objekte identifizieren. Die Schwäche des analogischen Verfahrens besteht jedoch darin, dass Unbekanntes als immer schon Bekanntes identifiziert wird. Daher der trostreiche Irrtum: Vnd geschicht nichts newes unter der sonnen (Luther). Durch den Vergleich des Unbekannten mit dem Bekannten geben wir den Dingen im buchstäblichen wie im übertragenen Sinne ein Gesicht.
So schauen die Dinge uns an und wir geben ihnen Namen. Wir haben sie uns anverwandelt. Diese Zuschreibung ist ein wähnendes, tendenziell wahnhaftes Verfahren, denn wir können damit auch Gesichter auch da sehen, wo gar keine sind. Richtig schlimm wird es, wenn moralische Kategorien mitspielen, wenn beispielsweise das Unbekannte mit dem Bösen identifiziert wird. Der Glaube an den bösen Wolf hat beinah zur Ausrottung der Spezies geführt, auch die Identifikation der Schimpansenphysiognomie als teuflische Verhöhnung der Gottesebenbildlichkeit dürfte für viele Tiere nichts Gutes bedeutet haben.
Durch das Potenzial des Vergleichs setzt das poetische Vermögen uns in den Stand zu sehen, was wir sehen wollen, indem wir Unverbundenes in Beziehung setzen. Dies ist ein magisches Verfahren, das auch in der Alltagssprache überaus wirkmächtig ist, zum Beispiel, wenn ein Frühstücksgebäck Hörnchen genannt wird: Eine Bezeichnung wird zum Bild für etwas ihr Fremdes gemacht. Dieses magische Verfahren erlaubt es auch, das leben, wie es luftschlingen legt und mich näher an sich heranzieht zu sehen. Oder Den Sonnenschein Und Schatten der Erde nehmen zu wollen.
Dergestalt also schafft das poetische Vermögen Gebilde, die keine Fragen stellen und nicht auf gestellte Fragen reagieren, schon gar nicht auf Sinnfragen.
Dieses poetische Vermögen ist aber auch imstande, andere Gebilde zu schaffen, die ebenfalls keine Fragen stellen, sehr wohl aber auf gestellte Fragen antworten, vor allem auf Sinnfragen: Verschwörungsmythen, etwa die Narrative von den Chemtrails zur Bevölkerungsreduktion bzw. zur Veränderung des pH-Werts im Boden. Gedichte wie Verschwörungsmythen sind in sich geschlossen und dulden keine Zweifel, in ihnen ist für Zufälle kein Raum, auch wenn bei ihrer Entstehung spielerische Aleatorik und Willkür wichtige Triebfedern sind. Beiden sind vollkommener Schein und Wahrhaftigkeitsrhetorik wichtiger als die Wahrheit. Ob sie Selbsterklärungen verweigern oder als „wasserdicht“ anbieten, ist kein signifikanter Unterschied. Sie fordern von Außenstehenden Respekt ein und sichern ihren Verfechter*innen die Überlegenheit der Eingeweihten.
Dichter*innen und Verschwörungsgläubige bilden eine Erbengemeinschaft, in der die Familienzugehörigkeiten weder eindeutig noch stabil sind. Wie bei jeder Erbschaft liegt die Verantwortung, was mit der Hinterlassenschaft geschieht, beim einzelnen Nachkommen.
Artig Worte setzen zu können ist fürs Gedichteschreiben notwendig, aber nicht hinreichend, denn dies schützt die im analogischen Verfahren geübten Poet*innen nicht davor, ihr Bildfindungs- und Sinnstiftungsverfahren auch auf die Dinge des Lebens anzuwenden und von klandestinen Wirkmächten zu raunen, die nicht nur aus Frühstücksgebäck Hörnchen machen, sondern auch aus der Bevölkerung ein Volk und womöglich aus Kondensstreifen Chemiewaffen gegen dieses Volk. Schließlich verhindert die Subjektivität des ICH denke, befeuert durch die unvermeidliche Künstler*inneneitelkeit, oft genug die Objektivität (= primärer Objektbezug) des ich DENKE.
Daher muss das poetische Vermögen fermentiert sein mit sozialer Sensibilität, die künstlerischem Identitätsgehabe die Grenzen aufweist, und mit einem Scharfsinn, der an den Valeurs der Sprache und im dialektischem Denken geschult ist. Sonst ist, was sich als Scharfsinn ausgibt, bloß Spitzfindigkeit.
Nur unter dieser Voraussetzung klappt‘s auch mit dem Artig-Worte-Setzen. Nur unter dieser Voraussetzung verwechseln die Dichter*innen nicht ihr poetisches mit dem Reflexionsvermögen. Mit dieser Verwechslung brächten sie ihr Erbe durch und verzockten beide Vermögen. So etwas passiert durchaus. Es ist zum Heulen.
© Achim Raven