Der Poesie-Talk – Folge 16: Franziska Röchter im Gespräch mit Barbara Zeizinger

Werk, Wirkung, Wirklichkeit: Am 22. jeden Monats unterhalten sich im losen Wechsel GEDICHT-Herausgeber Anton G. Leitner und die Bloggerin Franziska Röchter mit Schriftstellern und Literaturvermittlern über ihre Arbeit und ihr Leben.

 

Barbara Zeizinger schreibt Lyrik, Prosa sowie Rezensionen.

Liebe Barbara, Du machst außergewöhnliche Dinge wie z.B. kürzlich eine Lesung in einem italienischen Altersheim. Du sprichst perfekt Italienisch? Wie ist es zu dieser Veranstaltung gekommen?

Diese Lesung in einem Altersheim hat einen langen Vorlauf, der ungefähr 2011 beginnt. Ich habe ja lange als Lehrerin gearbeitet und in diesem Zusammenhang jahrelang einen Schüleraustausch mit einem Liceo in Adria, das ist eine kleine Stadt im Po-Delta, organisiert. An dieser Schule arbeitete ein Kollege aus dem Dorf Ceregnano, bei dem ich immer wohnte und mit dem mich eine enge Freundschaft verbindet.

Die Lesungen und die anschließenden Gespräche waren immer sehr emotional.

Irgendwann erzählte er mir von einem Massaker in seinem Dorf, das deutsche Soldaten am 25. April 1945, also am Tag des Friedensschlusses in Italien, an 20 Geiseln verübt hatten. Da dieses Verbrechen noch nirgendwo erzählt wurde, auch nicht in den Listen der vielen anderen Erschießungen in Italien auftaucht, habe ich mich entschlossen, über die Ereignisse zu recherchieren und sie zu beschreiben. Dabei habe ich die jüngste Geisel, einen 14jähriger Jungen, zu einem meiner Protagonisten gemacht. 2014 ist dieser Roman im Ludwigsburger Pop Verlag erschienen und 2017 in italienischer Übersetzung in dem kleinen Regionalverlag Apogeo Editore. Seitdem werde ich häufig zu Lesungen eingeladen, oft auch in Schulen und wie gesagt im Altersheim. Dazu ist zu sagen, dass ich bei den ersten Lesungen in Italien sehr nervös war, weil ich nicht wusste, wie die Zuhörer/innen reagieren würden. Es waren nämlich jedes Mal sowohl Zeitzeugen als auch Verwandte und Nachfahren der Opfer anwesend. So waren die Lesungen und die anschließenden Gespräche immer sehr emotional. Aber oft – auch in diesem Altersheim – haben sich viele Zuhörer/innen bei mir bedankt, mich umarmt und geküsst. Wo erfährt man das bei einer Lesung in Deutschland?

Italienisch habe ich studiert und unterrichtet. Aber ich würde nicht sagen, dass ich es perfekt spreche.

 

Lesung Barbara Zeizinger
Barbara Zeizinger, Foto: privat

 

Das ist eine spannende Geschichte. Man kann sich sehr gut vorstellen, dass Deine Zuhörer aufgewühlt, dankbar und gerührt sind, dass da jemand ist, der mit seinem Roman der Opfer dieses Massakers gedenkt und sie nicht in Vergessenheit geraten lässt. Wie sehr beschäftigen Dich generell und in Deinem schriftstellerischen Tun Themen wie Schuld, Sühne, Vergeltung, Gerechtigkeit?

Das ist ein bisschen die Geschichte meiner Familie.

Schuld, Sühne, Geltung, Gerechtigkeit, das sind für mich große Worte. Was mich interessiert, ist, wie Geschichte und gesellschaftlich-politische Verhältnisse das Leben der Menschen bestimmen oder wenigstens beeinflussen. In meinem neuen Roman Er nannte mich Klárinka beschreibe ich eine deutsch-tschechische Liebesgeschichte im Sudentenland zu Zeiten des Nationalsozialismus, die unter dem Druck der Ereignisse zerbricht. Das ist ein bisschen die Geschichte meiner Familie, eine meiner Tanten war nämlich mit einem Tschechen liiert und die hatten auch ein Kind zusammen. Aber wie gesagt, die Zeit war für eine solche Beziehung nicht günstig. Das hat mich auf die Idee gebracht, diesen Roman zu schreiben.
Ich möchte in meinem Schreiben eigentlich nur erzählen, wie es gewesen ist und überlasse es den Leser/innen, darüber zu urteilen. Ich bin aber schon der Meinung, dass geschichtliche Ereignisse auch in die Gegenwart hineinragen. Es ist wie bei einer Zwiebel, die von mehreren Schalen umgeben ist. Und wir sind die äußere Schale, die ohne die anderen nicht existieren kann. Deshalb gibt es in beiden Romanen auch eine zweite Ebene, die in der Gegenwart spielt.

 

Porträt Barbara Zeizinger
Barbara Zeizinger, Foto: privat

Du nennst dich ja explizit „Reiseschriftstellerin“ – oder wirst so genannt. Welche anderen Länder sind in Deinem gegenwärtigen Fokus, wohin reist Du aktuell besonders gerne und in welchen Deiner Bücher kann man diese Länder wiederfinden?

Ich selbst nenne mich nicht Reiseschriftstellerin, der Titel wurde mir nach meinem einzigen Reisebuch, das ich über Kuba geschrieben habe, verliehen. Außerdem habe ich eine Zeit lang hier in Darmstadt für einen Regionalverlag einzelne Orte vorgestellt. Das war es aber schon mit der Reiseliteratur. Davon abgesehen spielen verschiedene Länder immer eine Rolle in meiner Literatur, wie in den beiden bereits erwähnten Romanen. Auch wenn ich selbst Romane oder Gedichte lese, gefällt es mir, wenn die Landschaft für die Handlung und die Personen eine Rolle spielt. Natürlich reise ich immer wieder nach Italien, außerdem interessieren mich alle Länder in Osteuropa, und mit der Erforschung meiner Familiengeschichte habe ich meine Liebe zu Tschechien entdeckt. Im letzten Jahr bin ich in Chicago und Michigan gewesen und daraus ist ein Gedichtzyklus entstanden. Aber als Reiseschriftstellerin würde ich mich keineswegs bezeichnen.

Spielen denn in Deiner Literatur bestimmte Länder eine Rolle?

Ja, schon, es prägt uns schließlich sehr, welche kulturellen Wurzeln wir haben oder in welche Landschaft wir hineingeboren werden. Mich interessieren die Länder und Orte meiner Vorfahren auch sehr, weshalb immer wieder mal ein Bezug zu Österreich in meinen Gedichten vorkommt – aber auch zu England, wo ich längere Zeit verbracht habe. Meine Eltern haben in Wien im Stephansdom geheiratet und dort 25 Jahre später dieses Versprechen noch einmal wiederholt, meine Großeltern waren waschechte Wiener. Sobald jemand Österreichisch spricht, fühle ich mich irgendwie verbunden.
Aber auch Themen wie Entfremdung, Heimatlosigkeit, Entwurzelung beschäftigen mich, was bedeutet es, „zu Hause“ zu sein, und da spielen m.E. Beziehungen eine noch größere Rolle als ein bestimmtes Land.

Nun aber zu Deinem letzten Gedichtband Wenn ich geblieben wäre. Thematisierst Du darin nicht auch Deine Verwurzelung, spielt nicht sogar die Natur eine wichtige Rolle bei Deinen Erinnerungen?

Es gibt viel zu viele interessante und erzählenswerte Dinge.

Du hast eigentlich schon gesagt, worum es in meinem letzten Gedichtband geht. Ja, es gibt Gedichte, die sich mit Erinnerungen an die Kindheit, an die Familie beschäftigen und dies mit bestimmten Orten verbinden. Aber dabei möchte ich nicht stehenbleiben, dafür ist die Welt zu groß und außerhalb des Gewohnten gibt es viel zu viele interessante und erzählenswerte Dinge. Deshalb lautet auch der Titel des Gedichtbandes Wenn ich geblieben wäre und die Fortsetzung dieses Halbsatzes kann eigentlich nur lauten: Das wäre nicht gut gewesen.

Barbara Zeizinger vor der Buchandlung Zabel
Barbara Zeizinger, Foto: Buchhandlung Zabel

Ein großer Teil der Gedichte beschäftigt sich genau mit den Themen, die Du benennst: Heimatlosigkeit und Entwurzelung. Nirgendwo ist man fremder heißt beispielsweise ein Kapitel. Ich habe damals längere Zeit geflüchteten Frauen Deutschunterricht gegeben und so hat mich dieses Thema naturgemäß ziemlich beschäftigt. Aber Du hast recht, ohne persönliche Bindungen kann man sich überall fremd fühlen.
Ja, ich denke schon, dass Natur in meinem Schreiben eine große Rolle spielt. Aber sie ist kein Selbstzweck, sondern ein Spiegel für Stimmungen, mehr noch: für unser Verhalten. So gibt es in dem Band ein Gedicht, das heißt Konkrete Poesie und handelt von Zugvögeln, die sich vor ihrem Aufbruch in den Süden an der Nordsee bei Ebbe erst einmal richtig sattfressen. Aber da die Vögel unterschiedliche Beine, Schnäbel usw. haben, nehmen sie je nach Körperbeschaffenheit und Gewicht auch unterschiedliche Nahrung zu sich. Jeder Vogel frisst nur so viel wie er braucht und es reicht für alle. Das Gedicht handelt also in Wirklichkeit vom Teilen und von Solidarität. Etwas, das mir heute sehr wichtig erscheint.

Ein sicher interessantes Thema: Was möchten wir mit wem teilen? Würden wir alles mit jedem teilen wollen? Wo ziehen wir Grenzen? Aktuell werden wir ja plötzlich in Schranken verwiesen, die unser Denken und Leben möglicherweise neu justieren. Wie beurteilst Du die Absage der Leipziger Buchmesse 2020? Du wärst ja auch ein Teil von Leipzig Liest gewesen.

Liebe Franzi, ich besuche seit Jahren die Leipziger Buchmesse und dieses Mal hätte ich zwei schöne Lesungen gehabt. Mir gefallen die Lesungen in den Messehallen und die in der ganzen Stadt sehr gut, vor allem die Balkannacht und die Veranstaltungen in der Schaubühne Lindenfels (für sie habe ich sogar schon Eintrittskarten) haben es mir angetan. Obwohl ich die Absage sehr schade finde, kann ich sie nachvollziehen. Ich denke, letztendlich wollte auch Oliver Zille nicht die Verantwortung dafür übernehmen, wenn sich Leute in dem Gedränge, das dort doch größer ist als bei der Frankfurter Buchmesse, mit Corona angesteckt hätten. Ich fahre immer mit drei Freund*innen nach Leipzig und wir haben unsere Unterkunft schon mal für nächstes Jahr vorgebucht!

Liebe Barbara, ich danke Dir sehr für dieses Gespräch.

 

Kurzvita
Barbara Zeizinger, *1949 in Weinheim. Sie studierte Germanistik, Geschichte und Italienisch in Mannheim und Frankfurt. Lebt in Darmstadt. Sie schreibt Lyrik, Prosa. Regelmäßige Rezensionen für fixpoetry, Redaktionsmitglied bei den Zeitschriften Bawülon und Matrix des Pop Verlages. Ihr Roman Am weißen Kanal wurde ins Italienische übersetzt.
Mitglied u.a. in der Europäischen Autorenvereinigung Die Kogge, im VS, im Exil-Pen und der Internationalen Lyrikergruppe QuadArt. Mehrfache Stipendien des Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst.

 

"Er nannte mich Klárinka" von Barbara Zeizinger
Buch-Coverabbildung (Verlag Pop Epik)

 

 

 

 

 

Barbara Zeizinger
Er nannte mich Klárinka. Roman.
Pop Epik, 10/2018. 302 Seiten, 19,90 €
ISBN: 978-3-86356-242-7

 

 

 

© Franziska Röchter für dasgedichtblog, 02.2020

 

Die Rubrik »Der Poesie-Talk« wurde in Zusammenarbeit mit Timo Brandt gegründet, der die ersten fünf Folgen betreute. Alle bereits erschienenen Folgen von »Der Poesie-Talk« finden Sie hier.

 

Franziska Röchter

Franziska Röchter, (*1959), kam als Österreicherin auf die Welt und lebt derzeit mit deutscher Staatszugehörigkeit in Verl. Sie schreibt seit vielen Jahren Lyrik, Prosa, kulturjournalistische Beiträge, Rezensionen und mehr. Jahrelang verfasste sie für den mittlerweile eingestellten bekannten Blog der Poetryslamszene, Myslam, Beiträge, Rezensionen, Interviews und trat etliche Jahre (erstmalig mit 50) als Poetry Slammerin in Erscheinung. Sie organisiert(e) Lesungsveranstaltungen in Gütersloh und Bielefeld und betreibt seit 2011 den chiliverlag.
Franziska Röchter war mehrmals Jubiläumsbloggerin für die Zeitschrift DAS GEDICHT (2012 und 2017), führte Interviews und schrieb Features über annähernd 100 bekannte Persönlichkeiten der Literaturszene.
1. Preis Hochstadter Stier (jetzt: Lyrikstier) 2011, seit 2015 Vorstandsmitglied der Gesellschaft für zeitgenössische Lyrik e.V. mit Sitz in Leipzig, Mitglied im VS NRW.
Sie ist seit vielen Jahren regelmäßig in bekannten Literaturorganen wie DAS GEDICHT (Anton G. Leitner), in Vers_netze (Axel Kutsch), im Poesiealbum neu (Ralph Grüneberger), bis zu seiner Einstellung (2014) in Der Deutsche Lyrikkalender (Shafiq Naz) vertreten. Unzählige Veröffentlichungen in anderen Printmedien, Anthologien, Zeitschriften (u.a. bei dtv, in Flandziu, Halbjahresblätter für Literatur der Moderne, in Signum, Blätter für Literatur und Kritik u.v.m.). Etliche eigenständige Veröffentlichungen (Bücher, CDs), zuletzt das Projekt Fernreise. Philipp Röchter singt und spielt Gedichte von Franziska Röchter, 2017. Darüber hinaus ist Franziska Röchter Rundum-Betreuerin ihrer stark pflegebedürftigen Tochter.

© Franziska Röchter, 12/2018

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