Dichterbriefe – Folge 12: Vom Flüchtling bis zur Schnaxlbria – Christophe Fricker schreibt Anton G. Leitner

Christophe Fricker schreibt jeweils am 1. des Monats einem Dichterfreund, dessen Buch er gerade gelesen hat. Die Texte sind eine Mischung aus Offenem Brief zu Lyrik und Gesellschaft, bewusst parteiischer Rezension und vertrautem Austausch. Und damit hoffentlich auch weniger langweilig als Rezensionen, die ihre eigene Voreingenommenheit vertuschen.

 

Lieber Anton,

im Laufe dieser Briefe kam mir der Gedanke, dass es sich lohnen würde, ein kleines Wörterbuch anzulegen mit all den wunderbaren Prägungen und Neologismen und wiedererstandenen Archaismen, die unsere Dichterfreunde verwenden. Über Thomas Böhmes Zwiekraft freu ich mich zum Beispiel immer noch, und mit ein bisschen gutem Willen lässt sich da ein schönes Nachschlagewerk zusammenstellen.

Dein bairisch-deutsch zweisprachiges, lyrisch-bühnenreifes Schnablgwax passt einerseits wunderbar zu diesem Plan, denn das Buch ist voller Wörter, die einem Preußen wie mir aufregend fremd sind (genauer gesagt einem Nassauer, aber Wiesbaden ist schon irgendwie auch Preußens Nizza, und wer würde sich dazu nicht bekennen?). Wörter also wie Blädschl. Dadengld. Fozznschbangla! Und natürlich alles, was irgendwie mit dem Unterleib zu tun hat: schnaxln, brunzen, der neumodische Hundskaggbeiddl – und auf dem Höhepunkt des Dialektal-Nassforschen sogar die Schnaxlbria. Andererseits sind das, wie Du im Interview hinten im Buch sagst, gängige Begriffe, die in Minga im Schwange sind – was muss das für eine wunderbare Stadt sein …

A propos fremd: Fremde sind in den letzten Monaten jede Menge in München angekommen, in dieser authentischsten und urigsten aller Großstädte und in Deinen Gedichten. Richtig angekommen sogar. Der Yussuf heißt in der bairischen Originalversion von »Zeid weads zum Vareisn« schon »Jusepp« und erzählt dem lyrischen Ich von der Flucht übers Mittelmeer, sodass der bayerische Gastgeber »dabei | Sei ko, wenn de no amoi füa || Mi vo da griechischn Küsdn- | Wachä« gerettet wirst. Umgekehrt sind die Bayern inzwischen muslimisch angehaucht, jedenfalls ist ein ganz besonders wohlhabender ein »mekkareichs Binggal«. Oder hab ich da was falsch verstanden?

Dass bairische und hochdeutsche Versionen Deiner Gedichte nebeneinander stehen, führt mir vor Augen, dass originalsprachliche Gedichte immer fremd sind und ich diese Fremdheit manchmal unterschätze. Das wird mir hier gerade deshalb klar, weil ich mehr verstehe als zum Beispiel bei einem deutsch-arabischen Band, denn das Bairische ist im normalen Sinne nicht fremd, aber ich verstehe trotzdem vieles nicht oder hätte es völlig anders übersetzt. Case in point: »Gschafdlhuawa, gamsiga!« – »Notgeiler Wichtigtuer!« Wenn’s schon mit dem Bayerischen solche Hürden gibt, wie hoch sind die dann erst bei Lyrik aus dem Farsi oder Dari.

Manche halten Dialekte für etwas Altmodisches. Du zeigst, dass sie eine Seelenruhe ausstrahlen, die sich von kurzlebigen Sprachhypes nicht aus der Ruhe bringen lässt. »Nicht chillig«? »Koa Honigschlegga.« Dein Bairisch als Kulturraum kennt halt auch schon vieles. Ein neuhochdeutsch »aufgepepptes || 1-Liter-Bier-Mischgetränk | Mit Cola und Kirschlikör« ist eine »Goass- | Mass.« Und damit hat sich’s. Sieht auch viel schöner aus, so auf der Buchseite.

Unübertroffener linguistischer Glanzpunkt des Bandes und für alle Leser, vom Taxifahrer bis zum Übersetzungsforscher (wobei es da sicher eine Schnittmenge gibt) eindrucksvoll ist, was der »gwambbade Uhu aus Oheio«, ein amerikanischer Tourist, auf seiner München-Tour verzapft – weil Du nämlich sein radebrechendes Lob der Landeshauptstadt auch in zwei Versionen lieferst: München ist toll »Because of Ledarhosn and good Lebarcase | Or the Wisewurst and the Brezl«. Das ist die hochdeutsche Version. In der bairischen Fassung ist München attraktiv »Wega Ledarhosn änd gudd Lebakäis | Oda se Weisswörst änd se Brezl«. Wahnsinn. Der Stoff, aus dem Dissertationen sind! Und das beste? Ich muss sie nicht schreiben …

In diesem Sinne grüßt Dich herzlich
Christophe

 

Christophe Fricker. Foto: © Chiara Dazi
Christophe Fricker.
Foto: © Chiara Dazi

Christophe Fricker, geb. 1978, schreibt über die Möglichkeiten von Freundschaft, die Grenzen des Wissens und die Unwägbarkeiten der Mobilität. Mit Tom Nolan und Timothy J. Senior veröffentlichte er den zweisprachigen, illustrierten Gedichtband »Meet Your Party«. 2015 gab er die »Gespräche über Schmerz, Tod und Verzweiflung« zwischen Ernst Jünger und André Müller heraus, die das Deutschlandradio eine »Sensation« nannte. Frickers Buch »Stefan George: Gedichte für Dich«, eine Einführung in das Werk Georges, stand auf Platz 2 auf der NDR/SZ-Sachbuchbestenliste. Für den Gedichtband »Das schöne Auge des Betrachters« wurde er mit dem Hermann Hesse Förderpreis ausgezeichnet. Alle bereits erschienenen Folgen von »Dichterbriefe« finden Sie hier.

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