Ludwig Steinherrs neuer Gedichtband „Die weißen Freuden des Yeti“
Beginnen wir mit einem Statement, in dem auch ein veritabler Funke Neid steckt: So produktiv wie Ludwig Steinherr wäre ich auch gern. 22 Gedichtbände hat er bisher veröffentlicht, davon sieben oder acht allein in den letzten zehn Jahren. Gehässige Naturen würden jetzt sagen: ‚Na, wer in so kurzer Zeit so viele Gedichtbände hervorkarnickelt, bei dem kann doch was nicht stimmen – Masse statt Klasse?’ Doch nein, falscher kann man bei Ludwig Steinherr nicht liegen. Der Münchener Poet und promovierte Philosoph beweist ein ums andere Mal eine bemerkenswerte Kontinuität, was die lyrische Qualität seiner Gedichte angeht. Und wer bei dem Stichwort ‚Philosoph’ sofort zurückzuckt: Diese Gedichte sind keine teilmöblierten Ideengebäude. Sie schreiten zwar einen umfassenden Bildungshorizont ab, aber das Erstaunliche ist: Sie sind dabei wunderbar welthaltig. Mit anderen Worten. Man geht mit diesen in 11 Kapitel segmentierten 95 Gedichten auf eine Weltreise sondergleichen. Der Reiseführer Ludwig Steinherr schult dabei subtil die Wahrnehmungsschärfe der Lesenden. Das Gedicht „Gepard jagt Antilope“ etwa beschreibt keine Safari-Beobachtung im südafrikanischen Krüger-Nationalpark: „Eine gotische Kathedrale / leuchtend in der Morgensonne / und eine zweite Kathedrale / geduckt im Gras, die sich bereitmacht zum Sprung – / Zwei Kathedralen / rasend beschleunigt / die zweite springt auf die erste / und zertrümmert ihr Kirchendach – / So ist das / Kathedralen fressen Kathedralen / Es nützt nichts / wenn du wegschaust“ Dass eine Kathedrale als Raubtier, die andere als Beutetier in Szene gesetzt wird, hat man so auch noch nicht gelesen. Es bedarf nicht nur eines feinen Blicks, um hinter die profane Wirklichkeit zu schauen, es bedarf auch einer sprühenden Phantasie für eine solch originelle Wahrnehmungsverschiebung. Im selben Kapitel findet man davor ein Gedicht mit dem Titel „Ein großer Sommertag erwacht“ und man denkt: Na, eine Variation auf Rilkes berühmten „Herbsttag“-Anfang: „Herr es ist Zeit / der Sommer war sehr groß“? Aber es geht tatsächlich um einen verheißungsvoll beginnenden Sommertag, der von einer schönen, poetischen Frühstücksszene eingeleitet wird: „Die Sphinx hat schon geduscht und trinkt / mit feuchten Haaren Kaffee – / sie lächelt, weil ihr eben / ein gutes Rätsel eingefallen ist –“ Wenig später taucht wieder diese Wahrnehmungsverschiebung auf: Da verwandelt sich der Sommertag zu einem monokelbewehrten General, der mit großer Geste die Karten mit den Schlachtplänen zur Eroberung von Stadt- und Landschaften ausrollt.
Geistes-, Kultur- und Naturwissenschaften liefern Steinherr die Hintergrundstruktur, um dort seine lyrischen Haken einzuschlagen, hinzukommen die präzisen Reiseeindrücke des Vielgereisten, aber auch höchst aktuelle Phänomene wie die Covid-Pandemie. Manchmal auch beides zusammen wie in dem Gericht „Quarantäne 2“, in dem sich das lyrische Ich auf den Mars phantasiert. Ursache für diesen galaktischen Traumtrip ist allerdings eine Einschränkung, das corona-bedingte Reiseverbot. Da ergreift den Rom-Kenner ein solches Fernweh, dass er sich per Live-Webcam auf die Piazza Navona klickt, nur um diesen Platz zu sehen. Von da aus ist es nur noch einen poetischen Katzensprung auf unseren Nachbarplaneten: „jetzt alles so unerreichbar / wie der Mars/ und auch so unbewohnt –“.
Die Universalbildung des Poeten Steinherr erlaubt es, sich flink und behende durch die oben genannten Einflusssphären zu bewegen. Es braucht keine künstliche Verrätselung, keine hermetischen Fraktale, Steinherr kann sich die unverstellte Zugänglichkeit seiner Gedichte leisten. Der souveräne und virtuose Kulissenwechsel der Bildungshorizonte macht es möglich. Bei all dem ist der Gedichtband auch noch sorgfältig komponiert. Der Band beginnt mit dem Gedicht „Wildtierfotofalle“ und den Versen „Fast alles geht dir / früher oder später in die Falle / Bigfoot, Nessie …“. Sagenumwobene Wesen, die zwischen Mythos, Aberglauben und Folklore oszillieren, tappen also in die poetische Wahrnehmungsfalle des Poeten. Im letzten Kapitel nimmt der Dichter gar die Identität eines dieser Fabelwesen an. Das Kapitel trägt den Titel des Bandes: „Die weißen Freuden des Yeti“, es geht aber nicht um die weiß bepelzte Phantasiefigur aus dem Himalaya, nein, Steinherr beschreibt damit das eigene Älterwerden. Kennzeichen: die eigenen, zunehmend weißen Haare. Das selbstironische, augenzwinkernde Konstatieren sich summierender Lebensjahre verbindet Ludwig Steinherr aber wieder mit klugen Betrachtungen „Und plötzlich / rück ich vor auf dem Familienfoto / Wie eine Schachfigur / die einen überraschenden Zug getan hat“ Genau so ist es: Irgendwann gehört man auf Familienfotos zur ältesten Generation, man rückt vor in Richtung Vergänglichkeit, in Richtung Tod. Gelassen, mit feinsinnigem Humor inszeniert Steinherr das in seinem lyrischen Triptychon „Das Haar wird weiß“ und man ahnt als Leser, genau das sind die letzten weißen Freuden. Ludwig Steinherr legt mit diesem Band Gedichte vor, die beides ermöglichen: Entdeckung und Erkenntnis.
Hellmuth Opitz
Ludwig Steinherr
Die weißen Freuden des Yeti
Lyrik Edition 2000, Allitera Verlag, 19,90 €