Fremdgehen, jung bleiben – Folge 27: Karin Jacob

Poesie ist nicht nur Wort. Poesie ist Leben, das sich ständig erneuern muss. Doch was heute noch neu und fremdartig erscheint, gehört morgen schon zum Altbewährten. Junge Lyrik beschreibt den Raum dazwischen. Deshalb wagt Stefanie Lux in Nachfolge von Leander Beil an jedem 8. des Monats in der Kolumne »Fremdgehen, jung bleiben« einen freien Blick auf das kulturell und sprachlich Andere, das vermeintlich Fremde in der noch jungen Textwelt.

 

Eine junge Frau und ein junger Mann sitzen vor einem Fernseher, er möchte ihr das Schönste zeigen, was er je gefilmt hat: Auf dem Bildschirm, eine Plastiktüte, wie sie vom Wind getrieben wird, regelrecht tanzt. In dieser berühmten Szene aus Sam Mendes’ Film »American Beauty« steht die Plastiktüte sinnbildlich für die Vergänglichkeit und simultan für die Ewigkeit. Auch alltägliche Dinge können mit Leben erfüllt sein, Schönheit in sich tragen und nach außen weitergeben. Die Schönheit des Moments, in dem eine Plastiktüte tanzt, ist flüchtig, die Auswirkungen auf Betrachter und Umwelt nachhaltig.

Die im Wind fliegende Tüte steht auch in Karin Jacobs Gedicht »Die Tüte« für die Schönheit des Augenblicks: »sie flog davon« und damit in eine ungewisse Freiheit, in eine Zukunft, die für den Beobachter ebenso wenig zu erahnen ist, wie die Vergangenheit der Plastiktüte.

Zum wehmütigen Blick auf den Flug der Tüte gesellt sich, wie beim Filmzitat, eine Komponente, die aus heutiger Sicht aktueller denn je scheint: der Gedanke an den Umweltschutz. Der Müll ist in den Wald eingedrungen, ein Zufluchtsort der unberührten Natur wird verschmutzt durch den Abfall der Menschen. Achtlos gehen wir mit unserem Müll um, werfen ihn weg und sorgen uns nicht um ihn. Das lyrische Ich ist ebenso weggeworfen worden und lädiert, die Unachtsamkeit gilt nicht nur den Dingen, sondern auch den Beziehungen der Menschen.

Die Tüte fliegt davon, ihre Freiheit ist aber nicht rein optimistisch zu deuten; als Abfallprodukt hat sie zudem schädlichen Charakter. Am Ende kann sich das lyrische Ich nicht fortwehen lassen wie die Tüte, es muss bleiben: im Wald, in seinem versehrten Zustand und in einer janusköpfigen Welt, in der Schönes und Schlechtes oft nah beisammen liegen.
 

Die Tüte

Auf einem Weg,
ein Stück den Wald hinein,
da sah ich
eine Tüte liegen.
Blau, zerknittert, weggeworfen
– wie ich

Ein Windstoß kam
und hob sie auf
– sie flog davon.
Ich
musste bleiben.

 
© Karin Jacob, München

 
Karin Jacobgeboren 1980 in München, liebt Literatur in allen Formen, am liebsten mag sie jedoch den fantastischen Bereich, in dem sie auch selbst bereits etliche Kurzgeschichten veröffentlicht hat. Mit ihrer Geschichte »Anderland« erzielte sie den 2. Platz bei der Storyolympiade 2012. Außerdem stammt der Lyrikband »Gerupfte Engel« (Wortkuss Verlag) aus ihrer Feder; für die Anthologie »Die Welt im Wasserglas« (Verlag p.machinery) zeichnet sie als Herausgeberin verantwortlich. Aktuell arbeitet die Autorin an ihrem ersten Roman.
 

Karin Jacob
Gerupfte Engel

55 Gedichte ohne (langes) Federlesen
WortKuss Verlag 2.0, München 2011
E-Book, ca. 86 Seiten


 

Stefanie Lux. Foto: privat
Stefanie Lux. Foto: privat

Stefanie Lux, geboren 1987 in Kaufbeuren, Studium der Germanistik, Politikwissenschaften, Geschichte, Literatur- und Kulturtheorie in Gießen und Tübingen, lebt in München.

Alle bereits erschienenen Folgen von »Fremdgehen, jung bleiben« finden Sie hier.

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