Fremdgehen, jung bleiben – Folge 35: Natascha Huber

Poesie ist nicht nur Wort. Poesie ist Leben, das sich ständig erneuern muss. Doch was heute noch neu und fremdartig erscheint, gehört morgen schon zum Altbewährten. Junge Lyrik beschreibt den Raum dazwischen. Deshalb wagt Stefanie Lux in Nachfolge von Leander Beil an jedem 8. des Monats in der Kolumne »Fremdgehen, jung bleiben« einen freien Blick auf das kulturell und sprachlich Andere, das vermeintlich Fremde in der noch jungen Textwelt.

 

Eines warmen Frühlingsnachmittags träumt sich Alice ins Wunderland. An jenem absurden Ort scheinen Raum, Zeit, physikalische Gesetze und eine gewohnte Ordnung keine Rolle zu spielen. Alice flieht vor ihren irdischen Pflichten und folgt dem weißen Kaninchen ins Abenteuer.

Die Metaphorik der Welt- oder Realitätsflucht Alices ist fest in der Popkultur verankert. Ob Neo sich mit der Anweisung, dem Kaninchen zu folgen, aus der fiktiven Matrix in die Realität rettet, oder Jefferson Airplane mit ihrem Song „White Rabbit“ den Drogenkonsum, der wiederum einen bewusstseinsverändernden Ausbruch aus der Realität selbst darstellt, besingen: Folgt man dem weißen Kaninchen, besteht damit die Möglichkeit zum Ausbruch aus Konventionen, der vertrauten Umgebung oder bekannten Prinzipien.

Die Grenzen von Traum und Wirklichkeit verschwimmen bei Alices Abenteuern im Wunderland, durchbrochen wird dies immer wieder durch das weiße Kaninchen, das der Zeit hinterher rennt und Ausdruck getakteter weltlicher Grundsätze wie Pünktlichkeit ist. Zeit an sich spielt hier nur als etwas, das nicht erreicht werden kann, etwas dem man hinterher rennen muss, da es einem in jedem Augenblick aus den Fingern rinnt, eine Rolle.

Zeit zerrinnt, sie vergeht, ohne unser Zutun. Selten wird uns dies so bewusst, wie in Fällen von erzwungener Langeweile. Diese wiederum fühlen wir besonders im Krankheitszustand. Gefesselt ans Bett, vergeht draußen vor dem Fenster das Leben. Der Frühling kommt, die Vögel zwitschern, die Sonne scheint und man ist teilnahmsloser Zuschauer. Zeit spielt dann keine Rolle mehr, Uhren sind aufgezogene Maschinen, sie sagen nicht die Wahrheit. Im Schlaf entflieht man diesem Zustand kaum: Traum und Wirklichkeit vermischen sich zu einer (manchmal absurden) Geschichte, wie im Märchen.

 

Ihre Strümpfe zeugten von Unruhe, Perlon-
sekunden, gezupfte Zeit und die Beine zur Tarnung
übereinandergeschlagen: Der Blick zur Uhr
zeigte keine Wahrheit mehr. Seit Tagen

am Leben mit diesem lügenden Metall-
gehäuse, die Brust pochte und draußen
zwitscherten die Vögel. Alles nur Theorien
dachte sie, aufgezogene Maschinen im

Frühling. Manchmal verwechselte sie
die Figuren, träumte vom Hut- anstatt des
Uhrenmachers, aber im Märchen ging Nichts
verloren, kein bedrohliches Ticken

im Hintergrund, der Hase lief
mit der Zeit davon und wusste weiter nichts.

 

© Natascha Huber

 

Natascha Huber, geboren 1986 in Passau. Ab 2015 nahm sie 3 Jahre an der Darmstädter Textwerkstatt unter der Leitung von Kurt Drawert teil; im selben Jahr wurde sie mit dem Lyrischen Lorbeer in Gold ausgezeichnet. 2016 erhielt sie das Merck-Stipendium, 2017 war sie eine der Finalisten beim Literarischen März in Darmstadt, des Weiteren erschien ihr Debüt „Die Nacht trägt Flutsplitter aus Malachit“. 2018 erreichte sie das Finale des Literaturpreises „Irseer Pegasus“, erhielt das Aufenthalts-und Förderstipendium für Rheinland-Pfalz beim „Printemps Poetique Transfrontalier“ und stand auf der Shortlist des Martha-Saalfeld-Förderpreises.

 

"die Nacht trägt Flutsplitter aus Malachit" von Marina Maggio und Natascha Huber
“die Nacht trägt Flutsplitter aus Malachit” (Coverabbildung Verlag 3.0)

 

 

 

 

 

 

Natscha Huber und Marina Maggio: Die Nacht trägt Flutsplitter aus Malachit
Verlag 3.0 Zsolt Majsai, 2017
Taschenbuch, 100 Seiten
978-3956673047

 

 

 

 

 

Stefanie Lux. Foto: privat
Stefanie Lux. Foto: privat

Stefanie Lux, geboren 1987 in Kaufbeuren, Studium der Germanistik, Politikwissenschaften, Geschichte, Literatur- und Kulturtheorie in Gießen und Tübingen, lebt in München.

Alle bereits erschienenen Folgen von »Fremdgehen, jung bleiben« finden Sie hier.

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