»Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie«: eine fortlaufende Online-Anthologie, zusammengestellt von Jan-Eike Hornauer
Jan Causa
Mobbing
Der vom Fundament hoch zu den Ziegeln
seiner Seele durchgehende Riss.
In der Nacht der nicht von der Seite weichende
zusammengerollte Hund.
Am Morgen die grüblerisch-rhapsodische
Trauermusik des Schilfrohrs.
Am Grab die tränenerstickten Stimmen
der mobbenden Meute und
die quälende Angst, dass sie schon bald
ein neues Opfer finden könnte.
© Ingo Wachtmeister, Iserlohn
+ Das Original
»Die Gewalt« von Erich Fried ist das Vorbild. In für ihn so typischen analytisch-essayistischen Versen seziert Fried hierin den Begriff der Gewalt, besonders betont er dabei verschiedene Ausprägungen von Gewalt, die nicht eine unmittelbare körperliche Brutalität betreffen, etwa die strukturelle Gewalt jener, die in einer Gemeinschaft die Regeln aufstellen und sie somit auch anderen aufzwingen, die Staatsgewalt, die Gewalt besitzergreifender Liebe und die Gewalt von Eltern gegenüber ihren Kindern, die ihnen gehorchen müssen. Schon in den ersten zwei Versen macht Fried grundlegend deutlich, worum es ihm hier geht: »Die Gewalt fängt nicht an / wenn einer einen erwürgt«
Gewalt, das hat nach Fried vor allem mit einem Zusammenspiel von Macht auf der einen und Ohnmacht auf der anderen Seite zu tun. Dass sich innerhalb seines Themas durchaus Ambivalenzen ergeben, spart er nicht aus, so etwa auch nicht am Ende, als er feststellt, dass man Gewalt vielleicht nicht mit Gewalt überwinden kann, vielleicht aber auch nicht ohne.
Jan Causa übernimmt das Thema der nicht-körperlichen Gewalt, wählt aber für die Darstellung einen anderen Ansatz: Er konzentriert sich auf eine ihrer Ausprägungen, und diese führt er mit wirkungsstarken Bildern vor. Dabei gelingt es ihm, ein scheinbares Modethema (Mobbing) über das Emotional-Szenische im Allgemein-Abstrakten greifbar zu machen und so auch zugleich seine Zeitlosigkeit aufzuzeigen – denn in Wirklichkeit ist Mobbing ja eine Gewaltform, welche die menschliche Gemeinschaft immer mitgeprägt hat und wohl auch immer mitprägen wird. In den beiden Schlussstrophen, die einen zu bitterem Lachen reizen mögen, hebt Causa dann ebenfalls auf Widersprüche und Wechselwirkungen im Rahmen seines Betrachtungsgegenstandes ab. Allerdings geht er dabei wiederum auch anders vor als sein Vorbild: Wo Fried theoretisierend (k)einen Ausweg aus der Gewalt zeigt (siehe obiges Zitat), arbeitet Causa die psychologischen Zusammenhänge und Gründe auf Täterseite heraus – und beleuchtet so auch eine ungeheuer wichtige Facette, die Fried ausgespart hatte.
+ Zum Autor
Jan Causa (i. e. Ingo Wachtmeister) wurde 1938 in Pyritz (Pommern) geboren. Nach dem Abitur trat er 1959 in die deutsche Luftwaffe ein, die er 1992 als Oberstleutnant vorzeitig verließ. Er lebt heute in Iserlohn als Pensionär und freier Autor. Seine literarischen Schaffensschwerpunkte sind Lyrik und Kurzprosa. Im Jahre 2002 erschien sein heiterer-kritischer Prosaband »Baudissins Erben«. Er hat zahlreiche Preise erhalten, u. a. den Ruhr-Mark-Lyrikpreis 2007. Er war Autor des Onlinemagazins »Der Skorpion – international« (Magazin für Literatur und Gesellschaft), das inzwischen eingestellt wurde. Causa ist Mitherausgeber und Autor des Berliner Onlinemagazins »Die Gießkanne« sowie Förderer der Neuausgabe der »Fackel« des Kösel-Verlags, München. www.Jan-Causa.de
»Gedichte mit Tradition« im Archiv
Zu dieser Reihe: »Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie« ist eine Online-Sammlung zeitgenössischer Poeme, die zentral auf ein bedeutendes Werk referieren, ob nun ernsthaft oder humoristisch, sich verbeugend oder kritisch. Jeden Freitag erscheint eine neue Folge der von Jan-Eike Hornauer herausgegebenen Open-End-Anthologie. Alle bereits geposteten Folgen finden Sie hier.