»Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie«: eine fortlaufende Online-Anthologie, zusammengestellt von Jan-Eike Hornauer
Uwe-Michael Gutzschhahn
Dämmerung, April 2020
nach Alfred Lichtenstein
Ein dicker Junge spielt mit einem Teich.
Der Wind hat sich in einem Baum verfangen.
Die Menschen wirken plötzlich nicht mehr reich,
als wären alle Lampen abgehangen.
Die Schienen tragen leere Straßenbahnen.
Ein Mann steht maskenhaft vor einer Wand.
Im Bücherladen kann man Stille ahnen,
als wären die Romane schon bekannt.
Auf einem Gartentisch steht eine Vase,
wie wenn sie auf den Gruß der Tulpen hofft.
Am Fenster klebt noch eine Kindernase.
Ein Möwenschrei. Der Kirchturm schlägt zu oft.
© Uwe-Michael Gutzschhahn, München
+ Das Original
Alfred Lichtenstein
Die Dämmerung
Ein dicker Junge spielt mit einem Teich.
Der Wind hat sich in einem Baum gefangen.
Der Himmel sieht verbummelt aus und bleich,
Als wäre ihm die Schminke ausgegangen.
Auf lange Krücken schief herabgebückt
Und schwatzend kriechen auf dem Feld zwei Lahme.
Ein blonder Dichter wird vielleicht verrückt.
Ein Pferdchen stolpert über eine Dame.
An einem Fenster klebt ein fetter Mann.
Ein Jüngling will ein weiches Weib besuchen.
Ein grauer Clown zieht sich die Stiefel an.
Ein Kinderwagen schreit und Hunde fluchen.
+ Zum Autor
Uwe-Michael Gutzschhahn, geb. 1952, wuchs in Dortmund auf und lebt seit mehr als 25 Jahren in München. In den 1980/90er Jahren arbeitete er als Lektor und Programmmacher in verschiedenen Kinder- und Jugendbuchverlagen (Ravensburger, Hanser) und ist seit 2001 freier Übersetzer, Autor und Herausgeber. Für seine Arbeit wurde er mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Sonderpreis des Deutschen Jugendliteraturpreises 2018 für sein übersetzerisches Gesamtwerk und mit dem Großen Preis der Volkacher Akademie für Kinder- und Jugendliteratur 2018 für sein literarisches Gesamtschaffen.
Seit Jahrzehnten engagiert Gutzschhahn sich für die Förderung der modernen Kinderlyrik, hat zahlreiche Anthologien herausgegeben, u. a. »Ununterbrochen schwimmt im Meer der Hinundhering hin und her« (cbj 2015), »Sieben Ziegen fliegen durch die Nacht. Hundert neue Kindergedichte« (dtv 2018) und zusammen mit Jana Mikota »Und jeden Morgen ein Gedicht« (universi 2019). Außerdem stellt er seit nunmehr fünf Jahren hier auf »DAS GEDICHT blog« Monat für Monat in seiner Rubrik »Gedichte für Kinder« je einen Autor mit einigen ausgewählten Kindergedichten vor, und ebenfalls im fünften Jahr betreut er für die gedruckte Jahresschrift DAS GEDICHT den durch ihn eingeführten Kinderlyrikteil.
Zu seinen eigenen Gedichtbänden zählen »Unsinn lässt grüßen« (Gerstenberg 2012) und »Die Muße der Mäuse« (Elif 2018). Diesen Sommer folgt »Mäusekino. Ein Versfest für Kinder«, hierfür hat Gutzschhahn zahlreiche Gedichte mit Kindern entwickelt. www.gutzschhahn.de
»Gedichte mit Tradition« im Archiv
Zu dieser Reihe: »Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie« ist eine Online-Sammlung zeitgenössischer Poeme, die zentral auf ein bedeutendes Werk referieren, ob nun ernsthaft oder humoristisch, sich verbeugend oder kritisch. Jeden zweiten Freitag erscheint eine neue Folge der von Jan-Eike Hornauer herausgegebenen Open-End-Anthologie. Alle bereits geposteten Folgen finden Sie hier.
Danke für diesen tollen Blog. War sehr interessant zu lesen.