»Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie«: eine fortlaufende Online-Anthologie, zusammengestellt von Jan-Eike Hornauer
Michael Augustin
Bremen
Reich die Stadt? Die Stadt der Reichen?
Wo Massen zum Sozialamt schleichen?
Ringel, Dank für deine Zeilen
Doch die Stadt hängt in den Seilen
Heutzutag ist unser Bremen
Ziemlich reich nur an Problemen
Echt ist die Stadt, die Stadt ist echt!
Doch den Leuten geht es schlecht
Steintor, Walle und Domsheide
Alle Mann stehn in der Kreide
In der Bildung letzter Sieger
Fußball? Zweite Bundesliga
Die Tageszeitung ist verblödet
Und die Innenstadt verödet
Wird gebaut, darf’s Dudler bauen
Und das Stadtbild uns versauen
Der Hafen wurde zugeschüttet
Und die Werften sind zerrüttet
Liegt was auf Kiel, dann sind es Archen
Für skrupellose Oligarchen
Ahoi! Die Schifffahrt sitzt auf Grund
Ach, Daddeldu … du armer Hund
Weil die ganze Stadt verrottet
Wird die Zukunft eingemottet
Ringel, Ringel, ahnungsloser
Doch nun reicht’s mit dem Gemoser
Marmor, Stein und Eisen bricht
Was uns bleibt, ist dein Gedicht
© Michael Augustin, Bremen
+ Das Original
Joachim Ringelnatz
Bremen
Hier gelt ich nix, und würde gern was gelten,
Denn diese Stadt ist echt, und echt ist selten.
Reich ist die Stadt. Und schön ist ihre Haut.
Sag einer mir:
Welch Geist hat hier
Die Sankt Ansgarikirche aufgebaut?
Groß schien mir alles, was ich hier entdeckte.
Ein Riesenhummer lag in einem Laden.
Wie der die Arme eisern von sich reckte,
Als wollte er durchs Glas in Frauenwaden,
In Bremer Brüste plötzlich fassen
Und – wie wir’s von den Skorpionen lesen –
Restweg im Koitus sein Leben lassen, –
Wär er nicht längst schon rot und tot gewesen.
Als ich herauskam aus dem Keller, wo
Schon Heine saß, da sagte ich: »Oho!«
Denn auf mich sah Paul Wegener aus Stein,
Und er war groß und ich natürlich klein.
Brustwarzen hatte er an beiden Knien,
Vielleicht war’s auch der Roland von Berlin.
Und als ich, wie um eine spanische Wand
Mich schlängelnd, eine seltsam leere
Doch wohlgepflegte Villengasse fand
Und darin viel verlorene Ehre,
Stand dort ein Dacharbeiter.
Den fragt ich so ganz nebenbei:
Ob er wohl ein Senator sei?
Da ging er lächelnd weiter.
+ Zum Autor
Michael Augustin, 1953 in Lübeck geboren, studierte in Kiel und Dublin irische Literatur und Volkskunde und lebt in Bremen. Er schreibt Gedichte, Minidramen und Kurzprosa sowie Lyrik für Kinder. Seine literarischen Arbeiten, Collagen und Zeichnungen erscheinen weltweit in Zeitschriften. Zuletzt erschienen bei S. Fischer sein Gedichtbilderbuch »Hier kommt der stärkste Mann der Welt« (illustriert von Sabine Kranz) und im irischen Verlag Redfoxpress ein Band mit Collagen: »Herring & Smelt« (beide 2021).
Für viele Jahre hat er bei Radio Bremen als Feature-Autor und Redakteur gearbeitet und sich dabei intensiv mit der Präsentation von Lyrik aus aller Welt befasst. Er war Direktor des Festivals »Poetry on the Road«, sowie Kurator der internationalen Literaturkarawane »What is Poetry?« in Indonesien, Südafrika und Simbabwe.
Augustins Bücher wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt, und er war Gast auf Poesiefestivals in aller Welt. Ausgezeichnet wurde er mit dem Friedrich-Hebbel-Preis, dem Kurt-Magnus-Preis der ARD und Ende 2021 mit dem Premio Casa Bukowski Internacional de Poesía. Er ist Honorary Fellow der Universität Iowa und am Dickinson College in den USA und war Writer in Residence an der Universität Bath in England und im Heinrich-Böll-Cottage in Irland. Er ist Mitglied des PEN.
»Gedichte mit Tradition« im Archiv
Zu dieser Reihe: »Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie« ist eine Online-Sammlung zeitgenössischer Poeme, die zentral auf ein bedeutendes Werk referieren, ob nun ernsthaft oder humoristisch, sich verbeugend oder kritisch. Jeden zweiten Freitag erscheint eine neue Folge der von Jan-Eike Hornauer herausgegebenen Open-End-Anthologie. Alle bereits geposteten Folgen finden Sie hier.
Vielen Dank für dieses schöne Gedicht. Herr Oelze, Förderer von Gottfried Benn aus Oberneuland, stand für dieses alte Bremen, von dem auch Ringelnatz spricht. Es war einst eine sehr reiche Stadt. Sein – merkantiler – Abstieg ist ein wenig tragisch. Nur sollten wir, lieber Herr Augustin, uns nicht zu sehr in öffentlicher Selbstkasteiung ergehen. Die Fahne hoch! Die anderen in Deutschland, das habe ich immer wieder erlebt, denken gar nicht daran, so „echt“ und ehrlich zu sein wie wir Norddeutschen es sind und würden niemals zugeben, wenn es mal nicht so gut läuft. Diese Imagestrategie, die einer weiteren Abwärtsspirale wehrt, wünsche ich dringend auch Bremen, einer Stadt, in der es meines Wissens einen Engelkenweg gibt, der nicht wenig mit gewissen Vorfahren zu tun hat, und in der mir ein Verlag jetzt ein Angebot machte. Liebste Grüße von Hannover nach Bremen. Ich weiß, wovon ich spreche!