»Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie«: eine fortlaufende Online-Anthologie, zusammengestellt von Jan-Eike Hornauer
Christian Engelken
Was man is(s)t
Schnitzelgedicht nach Erich Fried
Es ist ein Stück Fleisch
sagt die Nüchternheit.
Man ist, was man isst
sagt der Volksmund.
Es ist lecker
sagt die Gier.
Es ist Lebenskraft
sagt die Vitalität.
Es war ein Leben
sagt das Mitgefühl.
Man ist, was man isst
sagt der Volksmund.
Es ist gesund
sagt der Selbstbetrug.
Es war ein Schwein
sagt die Tierliebe.
Du bist ein Schwein
sagt das schlechte Gewissen.
Man isst, was man ist
sagt der gute Humor.
© Christian Engelken, Hannover
+ Zu Original und Hintergrund
Das Vorbild ist hier »Was es ist« – und damit das wohl populärste und wirkmächtigste Gedicht von Erich Fried. In ihm stellt er die Liebe als ganz der Bedingungslosigkeit und dem Sein hingegebene elementare menschliche Seinskraft dar, und dies in schon buchhalterischer Präzision und Klarheit, in schlichten Versen von großer Nüchternheit – die dabei aber ungeheuer tiefgründig und berührend wirken.
Auf »Was es ist« also bezieht sich hier Christian Engelken mit seinem »Schnitzelgedicht« (eine Gattungsbeschreibung im Untertitel, die bereits so klar wie lustvoll den Absturz in deutlich prophanere Sphären vorwegnimmt und damit implizit auch gleich lustvoll eine große Fallhöhe aufzeigt). Und in der Hauptüberschrift varriert er Frieds berühmten Titel mit einem volkstümlichen Gag, mit dem Anklang an eine bekannte Phrase (die im Gedichtkorpus denn auch noch ganz ausgeführt werden wird) – was in sich sowie durch die hier ebenfalls aufgezeigte Fallhöhe auf den humoristischen Ansatz des Nachbildes hinweist sowie auch schon auf sein Sujet hinführt, nämlich eine verzehrethische Fragestellung zeitgeistiger Variation – die hernach auch, passend zu Titel und Vorbild, inhaltlich knapp, in klarer Sprache und mit ernstem Hintergrund ausgehandelt wird, doch eben zugleich mit großer Lust an der Pointe und ebensolchem Augenzwinkern. Aufbau und Form werden dabei vom Vorbild übernommen.
Hier direkt wiedergegeben wird das Original, wird Erich Frieds »Was es ist« aus rechtlichen Gründen nicht. Doch sei, wenngleich es über unzählige Schul- und Lehrbücher sowie Lyrikanthologien, über Abdrucke in Zeitungen und Kalendern, auf Postkarten und Postern etc. wohl wirklich als allgemein bekannt und erstr recht als jedem Leser und jeder Leserin dieser »Gedichte mit Tradition«-Folge geläufig anzunehmen ist, durchaus auch auf den Originaltext sowie eingelesene Varianten verwiesen. Sie finden sich auf der allgemein empfehlenswerten »Deutsche Lyrik«-Webseite, betrieben von Fritz Stavenhagen: https://www.deutschelyrik.de/was-es-ist-1039.html
+ Zum Autor
Christian Engelken wurde 1965 in Hannover geboren, wo er heute auch wieder lebt. Studium der Germanistik, Musikwissenschaft und Philosophie in Göttingen und Hamburg sowie kaufmännische Ausbildung. Tätigkeiten u. a. im Lektorat eines Verlages und in der Unternehmensverwaltung. Als Lyriker gilt seine besondere Leidenschaft dem komischen Gedicht.
2009 erschien sein Erstling »Die Neuvermessung Hildesheims« (mit Illustrationen von Frauke Maydorn, Moritzberg-Verlag), zu dem es im Hildesheimer Lyrikpark eine Installation gab. Jüngster Solo-Titel: »Kurvendiskussion« (Steinmeier, Reihe »Poesie 21« 2011). Ein Buch mit Tiergedichten ist in Arbeit und wird derzeit illustriert.
Dazu Veröffentlichungen in zahlreichen Anthologien (u. a. »Wenn Liebe schwant«, hg. v. Jan-Eike Hornauer, muc Verlag 2017) und Literaturzeitschriften (u. a. »Sterz« und »Das Gedicht«). Postkarten- und Posterprojekte, Literaturautomaten-Beiträger, Auftritte im Radio. Mehrfach ausgezeichnet in Literaturwettbewerben, zuletzt: erster Platz beim Landschreiberwettbewerb 2020, dritter Platz ebenda im Folgejahr. Christian Engelken ist Mitglied im Autorenkreis »Die Hildesheimlichen Autoren«.
»Gedichte mit Tradition« im Archiv
Zu dieser Reihe: »Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie« ist eine Online-Sammlung zeitgenössischer Poeme, die zentral auf ein bedeutendes Werk referieren, ob nun ernsthaft oder humoristisch, sich verbeugend oder kritisch. Jeden zweiten Freitag erscheint eine neue Folge der von Jan-Eike Hornauer herausgegebenen Open-End-Anthologie. Alle bereits geposteten Folgen finden Sie hier.