»Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie«: eine fortlaufende Online-Anthologie, zusammengestellt von Jan-Eike Hornauer
Alex Dreppec
Lorelau
Flussabwärts fuhren mit dem Boot
Marc und Jan, sein Kamerod.
Gen Mittag rief Jan: »Himmel, schau!
Dort auf dem Fels, die Lorelau!«
»Na und«, sprach Marc, »wozu so laut,
warum denn diese Furchtsamkaut?«
»Wer«, sprach Jan, »für diese Frau
schlecht dichtet, für die Lorelau,
dem Tod alsbald ins Auge schaut!
Ganz wie’s die Sage prophezaut!«
Da rief die Frau schon: »Schiffer, kommt!
Doch reimt Ihr falsch, seid Ihr verdommt.
Das Wasser riecht hier faulig,
weil and’re, die abschaulich
dichteten, schon lang vor Euch,
hier modern tief im Schattenreuch.«
Jan stotterte nun: »In den Staub
wirft man sich vor Euch schönem Waub!
Man kann nur leise hauchen:
Ihr seid ganz ohneglauchen!«
Sie sprach: »Für Euer Schmeicheln
soll ich Euch nicht ermeicheln?
Sind doch die Verse, die Ihr baut,
von übler Miserabligkaut!
Den letzten Nerv mir so zu reiben,
statt die Zeit mir zu vertreiben!«
Marc rief: »Ihr seid so wohlgebaut,
von solcher Appetitlichkaut,
man will in Treu und Glauben
sich selbst für Euch entlauben!«
Sie sprach: »Ihr reimt wie Tattergrause,
so sinkt im Sturmgebrause!«
Jan rief: »Oh dunkler Himmel!
Ich hab ’nen Heidenbimmel!«
Marc sprach: »Des Flusses schönste Braut,
wir bitten um Barmherzigkaut!
Ich ernähr’ der Kinder drei
mit Hecht und Aal und Kabeljei!«
Sie sprach: »Sinkt in den Fluten!
Trotz Eurer guten Tuten!
Geht unter mit Gebrause!«
Das war’s dann. Dummerwause.
© Alex Dreppec, Darmstadt
»Gedichte mit Tradition« im Archiv
Zu dieser Reihe: »Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie« ist eine Online-Sammlung zeitgenössischer Poeme, die zentral auf ein bedeutendes Werk referieren, ob nun ernsthaft oder humoristisch, sich verbeugend oder kritisch. Jeden Freitag erscheint eine neue Folge der von Jan-Eike Hornauer herausgegebenen Open-End-Anthologie. Alle bereits geposteten Folgen finden Sie hier.