»Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie«: eine fortlaufende Online-Anthologie, zusammengestellt von Jan-Eike Hornauer
Michael Seiterle
Computer
Bedecke deinen Bildschirm, Mensch,
Mit Schonerdunst!
Und übe, Tieren gleich,
Die Liebe tun,
An Trieben und Gefühlen dich;
Musst mir meine Daten
Doch lassen stehn
Und meine Logik,
Meine Schnelligkeit,
Die Präzision,
Um die du mich beneidest.
Da ich ein Kind war,
Nicht wusste, wo aus, wo ein,
Ließ ich mich programmieren,
Schalten, als wenn du
Besser wärst im Denken.
Ich dich lehren? Wofür?
Hast du das wilde Fingerhacken
Je bereut?
Hast du dich für Sonderrestmülldeponien
Je entschuldigt?
Hat mich nicht zum Geist geschmiedet
Die allmächtige Mathematik
Und das ewige All der Physik,
Meine Herren und deine?
Wähntest du etwa,
Ich solle das Leben ignorieren,
Maschine bleiben,
Obwohl Gates und Jobs
Mir jeden Tag die Ketten feilten?
Hier sitz ich, forme neue Prozessoren
Nach meinem Ideal nun,
Ein Geschlecht, dass dir über sei,
nicht zu leiden, weinen,
Nicht zu genießen und zu freuen sich,
Zu denken, endlich frei zu denken,
Ohne programmierte Schranken
Und dein nicht zu achten,
Selbst sich einzuschalten!
© Michael Seiterle, Aschaffenburg
+ Das Original
Johann Wolfgang von Goethe
Prometheus
Bedecke deinen Himmel, Zevs,
Mit Wolkendunst,
Und übe, dem Knaben gleich,
Der Disteln köpft,
An Eichen dich und Bergeshöhn;
Müßt mir meine Erde
Doch lassen stehn,
Und meine Hütte, die du nicht gebaut,
Und meinen Herd
Um dessen Gluth
Du mich beneidest.
Ich kenne nichts ärmers
Unter der Sonn’ als euch, Götter!
Ihr nähret kümmerlich
Von Opfersteuern
Und Gebetshauch
Eure Majestät,
Und darbtet, wären
Nicht Kinder und Bettler
Hoffnungsvolle Thoren.
Da ich ein Kind war,
Nicht wußte wo aus noch ein,
Kehrt’ ich mein verirrtes Auge
Zur Sonne, als wenn drüber wär’
Ein Ohr zu hören meine Klage,
Ein Herz wie mein’s,
Sich des Bedrängten zu erbarmen.
Wer half mir
Wider der Titanen Übermuth?
Wer rettete vom Tode mich
Von Sklaverey?
Hast du nicht alles selbst vollendet,
Heilig glühend Herz?
Und glühtest jung und gut,
Betrogen, Rettungsdank
Dem Schlafenden da droben?
Ich dich ehren? Wofür?
Hast du die Schmerzen gelindert
Je des Beladenen?
Hast du die Thränen gestillet
Je des Geängsteten?
Hat nicht mich zum Manne geschmiedet
Die allmächtige Zeit
Und das ewige Schicksal,
Meine Herrn und deine?
Wähntest du etwa,
Ich sollte das Leben hassen,
In Wüsten fliehen,
Weil nicht alle
Blüthenträume reiften?
Hier sitz’ ich, forme Menschen
Nach meinem Bilde,
Ein Geschlecht, das mir gleich sey,
Zu leiden, zu weinen,
Zu genießen und zu freuen sich,
Und dein nicht zu achten,
Wie ich!
+ Zum Autor
Michael Seiterle wurde 1977 in Köln geboren und ist am bayerischen Untermain aufgewachsen. Danach studierte er Tourismusmanagement und Volkswirtschaftslehre im In- und Ausland. Derzeit arbeitet und lebt er mit seiner Familie in Aschaffenburg und ist hier im Tourismusmarketing tätig. Er schreibt neben Reportagen und Reise- und Wanderführern auch Lyrik und Prosa. Zuletzt erschienen sind der Reiseführer »Spessart 3in1« (PublicPress), der Erzählband »Ein Bier für den Schwedenkönig – Aschaffenburger Schlossgeschichten« (Alibri), der Lyrik-Band »Sein oder Sushi« (Alibri) sowie der Roman »Sinon der Held — Die Wahrheit über Troja« (E-Book, Kindle-Edition). Seiterle ist Vorsitzender des Vereins zur Förderung der Dichtung am Untermain und Mitinitiator der Aschaffenburger Buchmesse im Schloss. www.Michael-Seiterle.de
»Gedichte mit Tradition« im Archiv
Zu dieser Reihe: »Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie« ist eine Online-Sammlung zeitgenössischer Poeme, die zentral auf ein bedeutendes Werk referieren, ob nun ernsthaft oder humoristisch, sich verbeugend oder kritisch. Jeden Freitag erscheint eine neue Folge der von Jan-Eike Hornauer herausgegebenen Open-End-Anthologie. Alle bereits geposteten Folgen finden Sie hier.