»Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie«: eine fortlaufende Online-Anthologie, zusammengestellt von Jan-Eike Hornauer
Timo Brandt
Böses Erwachen
Als er eines Morgens spät erwachte
und erst noch dachte, es ginge ihm gut,
da hörte er, wie das Internet lachte,
hysterisch laut – ihm gefror das Blut.
Schnell war er mit dem Smartphone zu Gange,
und ihm entwich ein gestrecktes: Verdammt!
Die Mehrheit im amerikanischen Lande:
Sie wählte doch tatsächlich Donald Trump!
Vom Fenster aus konnte er Leute sehn,
die gingen herum, als ob gar nichts sei.
Der Weltenlauf schien es nicht zu verstehn.
Lief einfach weiter. Und er stand dabei.
Dann saß er vor seinem kleinen Laptop
und dachte sich: Du kannst es lassen.
Doch am Abend saß er immer noch dort,
las jeden Artikel, las jedes Wort
und konnte es einfach nicht fassen.
© Timo Brandt, Wien
+ Das Original
Die Vorlage für »Böses Erwachen« von Timo Brandt ist »Sachliche Romanze«, eines der berühmtesten Gedichte von Erich Kästner. Dabei orientiert sich Brandts Poem nicht nur in der Form am Original, sondern ganz besonders auch in der Stimmung. Denn geht es bei Kästner zwar um ein Paar, das schlicht feststellt, dass es sich entfremdet, dass es sich einfach nichts mehr zu sagen hat, und bei Brandt um ein politisches Ereignis, so ist beiden Situationen doch letztlich dieses gemein: Sie werden ganz wesentlich durch eine überraschende Erkenntnis und schwer zu ertragende Ohnmacht geprägt, die Protagonisten sind im Grunde lediglich Zuschauer – und fühlen sich in dieser Rolle mehr als unbehaglich, können sie aber auch nicht verlassen, müssen in der Passivität verharren. Und können es einfach nicht fassen.
+ Zum Autor
Timo Brandt, 1992 in Düsseldorf geboren und in Hamburg aufgewachsen, studiert seit 2014 am Institut für Sprachkunst an der Universität für angewandte Kunst in Wien. Er verfasst Prosa, Lyrik und Kritiken. Brandt ist Mitherausgeber der Literaturzeitschrift JENNY sowie Rezensent auf Fixpoetry.com. Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften (u. a. JENNY, Bella Triste, Still, Metamorphosen, offenes feld) und Anthologien. Hier auf DAS GEDICHT blog publiziert er die Reihe »Poesie. Meditationen«.
»Gedichte mit Tradition« im Archiv
Zu dieser Reihe: »Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie« ist eine Online-Sammlung zeitgenössischer Poeme, die zentral auf ein bedeutendes Werk referieren, ob nun ernsthaft oder humoristisch, sich verbeugend oder kritisch. Jeden Freitag erscheint eine neue Folge der von Jan-Eike Hornauer herausgegebenen Open-End-Anthologie. Alle bereits geposteten Folgen finden Sie hier.