»Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie«: eine fortlaufende Online-Anthologie, zusammengestellt von Jan-Eike Hornauer
Michael Hüttenberger
Plädoyer für den Verzicht auf Sonette
Es will mir einfach kein Sonett gelingen, das allen Formkriterien entspricht, das sich nach strengem Schema reimt, das nicht die Metrik gegen Sprachgefühl erzwingen und dann in Strophen pressen muss.
Mir dringen Versagensängste tief ins Hirn. Verzicht verlangen sie von mir: »Sei stets erpicht auf lyrische Entsagung.«
Was das bringen und ob’s mir wirklich weiterhelfen würde, bleibt offen. Doch von Vorteil könnte sein, dass ich entlastet wär’ von all dem Treiben, Sonette sind schon eine große Bürde.
Ich könnte mich von meiner Angst befrein und gänzlich unbeschwerte Prosa schreiben.
© Michael Hüttenberger, Stedesdorf / Darmstadt
+ Umgebrochene VersionMichael Hüttenberger
Plädoyer für den Verzicht auf Sonette
Es will mir einfach kein Sonett gelingen,
das allen Formkriterien entspricht,
das sich nach strengem Schema reimt, das nicht
die Metrik gegen Sprachgefühl erzwingen
und dann in Strophen pressen muss. Mir dringen
Versagensängste tief ins Hirn. Verzicht
verlangen sie von mir: »Sei stets erpicht
auf lyrische Entsagung.« Was das bringen
und ob’s mir wirklich weiterhelfen würde,
bleibt offen. Doch von Vorteil könnte sein,
dass ich entlastet wär von solchem Treiben,
Sonette sind schon eine große Bürde.
Ich könnte mich von meiner Angst befrein
und gänzlich unbeschwerte Prosa schreiben.
© Michael Hüttenberger, Stedesdorf / Darmstadt
+ Das Original
Die Vorlage ist Robert Gernhardts »Materialien zu einer Kritik der bekanntesten Gedichtform italienischen Ursprungs«, also ein wahrlich bekanntes und anerkanntes Poem des prominentesten Vertreters der Neuen Frankfurter Schule. Der Herausgeber dieser Anthologie zum Beispiel lernte das 1979 erstveröffentlichte Meta-Poem bereits im gymnasialen Deutschunterricht kennen, und an der Universität fand er es abermals behandelt. Kein Zufall: Dieser moderne Klassiker ist schon lange weitverbreitet, wird von Lesern, Kritikern und Literaturwissenschaftlern gleichermaßen außerordentlich geschätzt. Und hat u. a. auch Eingang gefunden in den Wikipedia-Artikel über Sonette. Auf eine Wiedergabe des Originals an dieser Stelle hier wird aus urheberrechtlichen Gründen verzichtet.
+ Zum Autor
Michael Hüttenberger, 1955 in Offenbach geboren, lebt als freier Autor in Stedesdorf (Ostfriesland) und Darmstadt. Seine Schaffensschwerpunkte sind: Lyrik und Kurzprosa sowie Kommentare und Glossen. Gewinner Science-City-Slam Darmstadt 2007, Stockstädter Literaturpreis 2012, Krimipreis Wardenburg 2013 und zweiter Platz Mannheimer Literaturpreis 2014 (Lyrik). Er war Mitinitiator und einer der zentralen »Spieler« der Lyriker-Elf, die unter Leitung von Jan-Eike Hornauer die Fußball-WM 2014 auf DAS GEDICHT blog in Versform kommentierte (siehe »Vom Leder gezogen«). Sein bevorzugtes Mittel hier: das Sonett. Zuletzt von ihm erschienen: »Ostfriesische Perspektiven« (Lyrik und Prosa) sowie »So nette Köpfe« (Sonette von Michael Hüttenberger zu Tuscheporträts von Ingrid Freihold; beide Titel: Druckwerkstatt Kollektiv Verlag). www.MichaelHuettenberger.de
»Gedichte mit Tradition« im Archiv
Zu dieser Reihe: »Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie« ist eine Online-Sammlung erstveröffentlichter zeitgenössischer Poeme, die zentral auf ein bedeutendes Werk referieren, ob nun ernsthaft oder humoristisch, sich verbeugend oder kritisch. Jeden Freitag erscheint eine neue Folge der von Jan-Eike Hornauer herausgegebenen Open-End-Anthologie. Alle bereits geposteten Folgen finden Sie hier.